ADB:Gervinus, Georg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Gervinus, Georg Gottfried“ von August Thorbecke in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 77–86, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gervinus,_Georg&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 15:50 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Gervasio, Augustin
Nächster>>>
Geselschap, Eduard
Band 9 (1879), S. 77–86 (Quelle).
Georg Gottfried Gervinus bei Wikisource
Georg Gottfried Gervinus in der Wikipedia
Georg Gottfried Gervinus in Wikidata
GND-Nummer 118538918
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|9|77|86|Gervinus, Georg Gottfried|August Thorbecke|ADB:Gervinus, Georg}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118538918}}    

Gervinus: Georg Gottfried G., ist am 20. Mai 1805 in Darmstadt geboren. Seine Eltern waren einfache Bürgersleute, aber erfüllt von dem stolzen Unabhängigkeitsgefühl einer auf eigene Kraft gegründeten Existenz. Frühzeitig prägte der Vater den Söhnen die Ueberzeugung ein, daß man vom Staate zu leben ebenso verachten, wie von jedem Schmarotzen um Anstellung und Beförderung sich fern halten müsse. Im Uebrigen mochte er sich um die heranwachsenden Knaben wenig kümmern. „Ich war“, schrieb G. später in einer autobiographischen Skizze, deren Mittheilung (A. A. Ztg. 1872 Nr. 60) wir Kriegk, an den sie gerichtet war, verdanken, „ich war von früh auf ohne eigentliche Erziehung; von meinem Vater erbte ich, was ich an Trotz und Kraft habe, von meiner Mutter alles, was sich sonst Gutes in mir findet.“ Ihm, der an ein freies Spielleben gewöhnt war, wollte der Bann der Schule wenig behagen. Mit Widerwillen ging er in den Unterricht eines „groben“ Candidaten, mit gleichen Gefühlen trat er, 9 Jahre alt, in das Gymnasium seiner Vaterstadt ein, das sich kaum auf dem Niveau der Mittelmäßigkeit halten konnte. Damals machte der nationale Aufschwung der Befreiungskriege dem fremden Joch das lang ersehnte Ende. In den kleinen Residenzen des Rheinbundes fühlte man die Wendung des napoleonischen Glücks mit besonderer Schwere. So ging die heiße Zeit an dem Knaben nicht spurlos vorüber. Der Eindruck der unruhigen Kriegszeit blieb in seiner Erinnerung mit frischen Farben haften. Die strenge Ordnung der Schule sah sich freilich durch das wechselvolle Treiben wenig gefördert. Wenn G. trotz äußerer Ablenkung und persönlicher Abneigung von der Schule für fleißig gelten durfte, so kam der Antrieb dazu ganz aus ihm selbst, so sehr sich die Eltern auch über ein Prämium freuen mochten, das er nach Hause brachte. Bald machte der Einfluß seiner Mitschüler sich geltend. Da von Angehörigen und Lehrern so wenig geschah, die Knaben zu fesseln oder in der rechten Bahn zu halten, war es nur zu natürlich, daß sie nach eigenem Geschmack und auf eigene Kosten Bildung und Unterhaltung suchten. Es bemächtigte sich ihrer ein polyhistorischer Eifer, der besonders G. tief erfaßte. Der Eindruck von Reisebeschreibungen und Robinsoniaden führte zu dem zunächst ernst gemeinten Gedanken, den Eltern durchzugehen und anziehende Abenteuer in der Weite zu suchen: vor einem schlimmen Traum sank der rasch gefaßte Plan rasch wieder zusammen. Ernstlicher war es gemeint und einem dunkeln, instinktiven Trieb der Strebsamkeit entsprungen, wenn sich die Freunde zu einem Dichterbund zusammenthaten, der sich in der Weise des Göttinger Hainbundes gefiel. Was zuerst eine Kinderposse war und im engeren Kreise wenig Schaden bringen mochte, führte bald, als Wetteifer und Eitelkeit mit ins Spiel kamen, zu einer Vernachlässigung aller Dinge, welche nicht Poesie waren. Das ging so weit, daß die Knaben eine Zeitschrift schreiben wollten und einen Frankfurter Buchhändler [78] mit Briefen und Proben halb geneigt zum Verlage machten. Nicht die Kindlichkeit der Versuche, nicht die Unmündigkeit ihrer Verfasser, sondern erst die Censuransprüche der Zeit zerschlugen die geführten Verhandlungen. Für G. war es ein Glück, daß Romane und Taschenbücher, Theater und Musik, die er später die Strafengel unserer Zeit nannte, ihn nicht ganz in Anspruch nahmen, daß ein richtiges Gefühl ihn doch zu mustergültigen Vorbildern für seine poetischen Versuche führte. Seine Lieblingslectüre blieb Homer. „Dem Alten dank ichs heute“, schrieb er 1827, „daß er mir unter allen Verirrungen einen Sinn fürs Große erhalten hat.“ Nun lag an und für sich in diesem „phantastischen“ Treiben keine ernstliche Gefahr, es war ein allerdings früh erwachtes Bedürfniß nach geistiger Thätigkeit, das sich Luft suchte und wol auch durch die Anregung, welche die kunstsinnige Stadt bot, wie durch die allgemeine Richtung der Zeit, die nach der Anstrengung äußerer Thaten in ein verinnerlichtes Geistesleben drängte, Förderung finden mochte. Für G. konnte es nur bedenklich werden, weil es ihn gleichgültig gegen jede Arbeit in der Schule machte, und ihn, der trotz aller Zerstreuung auf den ersten Bänken saß, schließlich das Classenwesen so verachten ließ, daß es ihm unmöglich schien, nach seiner Confirmation länger im Gymnasium zu bleiben. Sehr trug zu diesem Entschlusse die Abneigung des Vaters gegen jeden gelehrten Beruf das ihrige bei; dem Sohn aber, der sich 1819 nach eigener Wahl dem Buchhandel zukehrte und in Bonn in das Geschäft von Marcus trat, ward die erste bittere Enttäuschung zu Theil. Auf die fieberisch schwärmende Einbildung folgte ein eisiges Sturzbad der Prosa und Wirklichkeit. Er hatte gehofft, im Kaufmannsstande Muße zu finden für Poesie und Poeterei, und mußte nun erleben, wie hier „Muße und Muse“ mit Gewalt verjagt wurden. Schon nach wenigen Wochen trieben ihn Heimweh und das Gefühl geistiger Verlassenheit nach Darmstadt zurück. Dort fand er nach kurzem Rückfall in verfrühte Autorengedanken eine Stelle in der Mode- und Schnittwaarenhandlung von Schwab, die ihm Zeit genug für seine geistigen Neigungen zu lassen versprach. Hier ist er fünf Jahre geblieben, zunächst mit peinlichem Pflichtgefühl dem neuen Berufe sich widmend, der ihm Gelegenheit bot, durch die Berührung mit allen Ständen eine reiche Fülle von Menschenkenntniß zu sammeln, dabei immer in regem geistigen Verkehr mit den alten Freunden der Schule, mit Eifer neueren Sprachen und ihren Litteraturen sich zuwendend, stets bedacht, aus den reichen Sammlungen seiner Vaterstadt seine Belesenheit in der deutschen Poesie zu mehren, dann aber, als nach und nach die Freunde schieden, in gänzlicher Vereinsamung und zurückgestoßen von der geistlosen Einförmigkeit des Geschäfts „von einer Auflösung an Körper und Geist“ bedroht. Vor ihr rettete ihn ein Freund, F. M. Hessemer (gest. als Professor der Architektur 1860 in Frankfurt a. M.), mit dem er durchs Leben verbunden blieb, und ein Dichter, Jean Paul, über den er später wol anders geurtheilt hat, als in diesen Jahren. „Der erste brachte seine Poesien zu Ehren, auch hie und da zum Druck (in einem Mannheimer Blatt soll manche derselben erschienen sein), der andere hob den völlig gesunkenen Menschen in ihm völlig empor“. Der Dichter, der mit einer überreichen Phantasie begabt, aber, in einer anregungsleeren Umgebung aufgewachsen, wie kein anderer gelernt hatte, das innere Leben der menschlichen Seele zu belauschen, fügte sich seinen Zuständen so eng an, „daß er sich oft selbst im Spiegel zu sehen glaubte.“ Das führte freilich mit erneuerter Stärke zu den poetischen Träumereien der Knabenjahre zurück, – denn in diese Zeit fällt der lebendige Verkehr mit hervorragenden Schauspielern, wie Gruner, Fischer, Becker, der die Freunde dramaturgische Kritiken schreiben, Scenen und Prologe verfassen, und G. sogar an den Schauspielerstand denken ließ – aber es hob auch mächtig den Drang nach wissenschaftlichem Leben, der trotz aller Freiheiten in der kaufmännischen [79] Lehrzeit hatte leiden müssen. Auf die Dauer konnte freilich diese Zwitterstellung nicht bestehen. Es war ein Glück, daß eine Differenz mit dem Prinzipal G. endlich zwang, das Geschäft zu verlassen. Er wendete sich mit aller Entschiedenheit zu den Studien zurück. Eine angestrengte, halbjährige Vorbereitung genügte, ihm den Zugang zu der Landesuniversität zu eröffnen. Halb gegen den Willen des Vaters, der auch jetzt von einer Gelehrtenlaufbahn nichts hören, der Stetigkeit des neuen Entschlusses nicht trauen wollte, begab er sich (Ostern 1825) nach Gießen. Er hatte zwar die etwas unklare Absicht gehabt, Aesthetik und Kunstphilosophie zu studiren, – die Beschäftigung und der Umgang der letzten Jahre mußten darauf leiten – es war aber, zumal ihn die Rücksicht auf den Lebensunterhalt bestimmen mußte, natürlich, daß er sich zur Philologie bekannte. Er löste sich los von dem Banne Jean Pauls, gegen den er bald eine halb leidenschaftliche Antipathie empfand, und wandte sich zurück zu seinem Homer und den Griechen. Aber die Art, wie die gewählte Wissenschaft, die ihm die reizendste von allen war, betrieben wurde, schreckte ihn bald wieder ab. Er fiel von Neuem in seine alten Zweifel zurück, oder vielmehr sie begannen erst jetzt ihn tiefer zu fassen, wo er unsicher zwischen Philosophie (bei Hillebrand) und Philologie (bei Osann), zwischen Poesie und Geschichte umher schwankte. Wieder kam er auf die Poesie zurück und dachte sich in einer großen historischen Tragödie (Heinrich IV.) zu versuchen. Das führte ihn der Geschichte nahe und auf Rathen der Freunde (Ostern 1826) nach Heidelberg. Voß, an den er empfohlen war, und der ihn vielleicht der Philologie wiedergewonnen hätte, war zu derselben Zeit gestorben; so neigte er mehr dazu, unter Schlosser Geschichte zu studiren. Aber nicht sofort knüpfte sich jenes Verhältniß, das später die Männer so eng verband, wenn auch alsbald die Einwirkung Schlosser’s sich zeigte. Denn schon hatte G. erkannt, „daß das praktische Treiben seiner Zeit verkehrt, daß in jeder Thätigkeit der patriotische Sinn allein von Werth sei“, und die Geschichte allein den Weg leite, diesen praktischen[WS 1] Sinn zu wecken; aber noch kam er zu keinem festen Entschluß für sein Studium. Erst nach Wochen peinlicher, tiefaufregender Zweifel brachte ihn sein unerbittliches Streben und Ringen, dem Spruche des delphischen Gottes zu folgen, zur Klarheit über sich selbst. Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und rasch erkannte er, daß „sein phantastisches Treiben die Folge eines langen, grausamen Selbstbetrugs gewesen, daß er so gar nicht zum Poeten gemacht sei, daß sein ganzes Wesen von Natur weit mehr zum Verstande als zur Phantasie sich neige.“ Jetzt ließ er in ganzer Stärke den Einfluß Schlosser’s auf sich wirken, der ihm die Räthsel des Lebens öffnete, vor denen ihn bisher Geschäftsleben und Dichtung, Philologie und Philosophie rathlos gelassen hatten. „Er begriff, daß der Schlüssel zu diesen Räthseln nicht sowohl dem Lehrer als der Lehre eigen war, und er glaubte nun endlich in dem Geschichtsstudium den Beruf seines Lebens gefunden zu haben.“ (siehe selbstbiographische Skizze in Germania 17, 126). Mit eisernem Fleiß warf er sich auf das Studium der Alten und der Geschichte; auch er erfuhr die Wahrheit des Schiller’schen Satzes, daß für geschwundene Ideale der sicherste Trost in nie ermattender Beschäftigung gefunden werde. Fortan war es sein Streben, mit den Alten denkend und fühlend, in der Gegenwart zu leben und nach Vermögen zu wirken. In dem Manne aber, der ihm zu sittlicher Klarheit über sich geholfen hatte, verehrte er von jetzt mit hingebender Pietät den Lehrer und Meister. Diesem Gefühl hat er in seiner entschiedenen Weise in dem Nekrolog Ausdruck gegeben, der nach Schlossers Tod 1861 erschien und bei seinem paränetischen Charakter wohl Gegenmeinungen wecken mußte.

Mit der berührten Wendung schließt die Jugendentwicklung von G. ab. Sie war großentheils die eines Autodidakten gewesen, der manche Irrwege [80] gehen mußte, bis er das Ziel, das ihm gesteckt war, vor sich erkannte, auf diesen Irrgängen aber Kenntnisse und Erfahrungen gesammelt hatte, die er in regelrechter Entwicklung schwerlich hätte finden können. Denn die Vertrautheit mit den neueren Sprachen, wie die Kenntniß des Alterthums, die Belesenheit in der vaterländischen Litteratur, die ihm schon damals einen Gesammtüberblick über die deutsche Dichtung eröffnete, die Befähigung ästhetischer Betrachtung, im Umgang mit Kunst und Künstlern erprobt, sind in diesen nun abgeschlossenen Jahren erworben worden. In der vita nuova ging er in selbständiger Weiterbildung rasch vorwärts. Es folgten Jahre rastloser Arbeit, ausgedehntesten historischen Studiums, äußerlich bestimmt durch eine mehrjährige, erfolgreiche pädagogische Praxis, die ihn nach Verlassen der Universität (vom Herbst 1827 bis Anfang 1829) als Lehrer an ein von Dr. Gutermann geleitetes Erziehungsinstitut nach Frankfurt a. M., dann ein Jahr als Hauslehrer in eine englische Familie (Hunter) nach Heidelberg führte. Noch während dieses „Dornenbad“ genommen wurde, ließ sich G. als Privatdocent der Geschichte in Heidelberg nieder und trat damit erst in ein Geleise selbstbefriedigter Thätigkeit. Die ersten Arbeiten von G., die nun erscheinen, sind noch rein auf gelehrte Forschung gerichtet: eine Ausgabe des Thukydides (Frankfurt 1830–35), in welcher Morstadt den Text nach den besten Autoritäten, G. und vom 5. Buch an Hertlein die Anmerkungen der besten Ausleger mit dem Ducker’schen Apparate zusammenstellten, meist noch auf die alte Neigung zur Philologie zurück, von charakteristischer Bedeutung, weil gerade Thukydides dem jungen Autor nicht blos ein Ojekt philologischer Gelehrsamkeit war, sondern als Muster in Darstellung historischer Urtheile und in Selbständigkeit des Charakters galt. Die Ausgabe ist wissenschaftlich von keiner Bedeutung. Das Ganze mehr ein Haufe ungleichartiger Materialien zu nennen, so daß G. froh war, als er sich in gütlicher Weise von dem Unternehmen lösen konnte. Die zweite Arbeit: „Die Geschichte der Angelsachsen im Ueberblick“ (Frankfurt 1830) zeigt, wie er selbst sagt, die Trockenheit eines ersten historischen Versuchs und ist im Grunde nur „ein Fragment von Heften, die er sich als Erinnerung bei seiner Lectüre niederschrieb“, jetzt zusammengestellt, um als Habilitationsschrift zu dienen. Die nächsten Schriften haben schon einen durchaus anderen Charakter. Die Stoffe scheinen fern zu liegen, abseits vom Interesse der Gegenwart: „Geschichte der florentinischen Historiographie bis zum 16. Jahrhundert, nebst einer Charakteristik des Macchiavell“ (historische Schriften I, 1833) und „Versuch einer inneren Geschichte von Aragonien bis zum Ausgang des Barcelonischen Königsstammes“ (zuerst theilweise im Archiv von Schlosser und Bercht Bd. 3. 1832, dann vollständig in historischen Schriften Theil I), und man hat wol gesagt, daß ihre Wahl dem Schlosser’schen Wesen entspreche, von der eigenen Geschichte ab- und fremder sich zuzuwenden. Aber es sind doch ganz besondere Verhältnisse gewesen, die G. zu diesen Stoffen gezogen haben. Aeußerlich wurde er durch einen Aufenthalt in Italien (Frühjahr 1832 bis Frühjahr 1833), dem er eine ganz besondere Einwirkung auf seine Entwicklung zuschreiben durfte, dem Studium der Florentiner näher gebracht, wie ihn im Allgemeinen der Gedanke, Spittler’s Geschichte der europäischen Staaten durch ein Werk zu ersetzen, das der Zeit und dem Stande der Wissenschaft mehr entspreche, zu der Geschichte Aragoniens geführt haben mag. Aber schon wünschte er, so sehr er auch in der Beutheilung Macchiavelli’s hie und da einen kosmopolitischen Standpunkt herauszukehren scheint, von einem waren Bestreben Zeugniß abzulegen, daß er weder um das ächte Wissen, noch um das wahre Leben betrogen sein möchte, eine Gefahr, die einem Schriftsteller so leicht drohe, wenn er seine Wissenschaft der Bewegung des Lebens entweder völlig preis gebe, oder ganz verschließe; schon zeigen viele Seiten seiner Arbeit aus der italienischen Geschichte, [81] gerade bei der Beurtheilung des Politikers Macchiavelli, daß er tief über politische Dinge gedacht, wie er auch eingesteht, daß die Geschichte der Aragonesen darum ein besonderes Interesse verlangen dürfe, weil dieses Volk, das in seiner Abgeschlossenheit und so vielen Charakterzügen noch an die Staaten des Alterthums erinnere, sich in der repräsentativen Form der Verfassung bewege, die nur hier in der höchsten Einfachheit erscheine. Dabei ist, gegen die Habilitationsschrift gehalten, der große Fortschritt von der Forschung zur Darstellung unverkennbar. Das politische Moment, das in diesen Stoffen eine besondere Anziehungskraft auf G. ausübt, tritt bald deutlicher hervor in directer Beziehung zu dem Leben selbst; im Gegensatz gegen die Reaction, die, nachdem die unmittelbaren Folgen der Julirevolution zurückzutreten anfingen, sich durch ganz Europa fühlbar machte, sucht G. der Entfremdung von Wissenschaft und Leben zu steuern, „damit bestimmte Gedanken, welche die Einsicht in Lage und Bedürfniß der Zeit nahe legt, welche das Leben bewegen und die großen Interessen des Volkes berühren, jedes Werk, besonders historischer und publicistischer Art, durchdringen und gestalten mögen“. So bereitet sich deutlicher seine Wirkung auf den öffentlichen Geist Deutschlands vor, die dann seine wissenschaftliche Arbeit stets begleiten sollte; so bezieht sich fortan bei ihm jede Thätigkeit auf des Vaterlandes gegenwärtige und kommende Verhältnisse, zum Unterschied von seinem Freund Schlosser, bei dem Alles, was er schreibt, mehr der Allgemeinheit sich zukehrt. Am entschiedensten spricht sich jene Tendenz zuerst in dem Programm oder der Einleitung zu den „Deutschen Jahrbüchern“ (1835) aus, deren Titel schon deutlich sagte, was sie sollten (D. J. zur Aufnahme und Förderung eines gemeinnützigen Zusammenwirkens in Wissenschaft, Kunst und Leben, herausgegeben von einer Gesellschaft von deutschen Gelehrten, 1. Bd. 1.–3. Heft, Leipzig 1835). Der Herausgeber hofft, daß dieses Unternehmen zu einem nationalen Werke sich gestalte, da es die Nationalehre zu verlangen scheine, daß der wissenschaftlichen Kultur eine würdige Repräsentation zu Theil werde. Er nimmt sehr entschieden Stellung zwischen den extremen Richtungen der Zeit; er erklärt, daß er nichts mit der liederlichen Genialität unklarer Köpfe zu schaffen haben wolle und den litterarischen Jacobinismus eben so sehr hasse, wie das Kastenwesen und die Schuldespotie. Der Erfolg der Jahrbücher entsprach nicht der gehobenen Stimmung, mit der sie G. ins Leben gerufen hatte; sie haben sich nur ganz kurze Zeit gehalten, und der Gedanke ist später von anderer Seite und in anderer Weise mit mehr Glück wieder aufgenommen worden. Denn noch war die Zeit für diese so energisch betonte praktische Richtung wenig empfänglich. Aber die Aufsätze, die G. in dieser Zeitschrift erscheinen ließ und später (1839) im 7. Bande seiner „historischen Schriften“ sammelte, beweisen, daß er ihre Aufgabe mit allem Nachdruck verfolgt hat. Wir erinnern nur an seinen „Plan zur Reform der deutschen Universitäten“, dem ein Aufsatz „Ueber deutsches und französisches Unterrichtswesen“ (1835) als Vorläufer gedient hat, der, in Form eines Ministerialberichts abgefaßt, Eingeweihte wie Thiersch über seine Provenienz täuschen konnte; wir denken an die strenge Kritik über „Börne’s Briefe aus Paris (1835), die dem Verfasser alle Jungdeutschen zu Feinden machte, und an die Anzeige von Schlosser’s „Universal-historische Uebersicht über die alte Welt“, die den historischen Standpunkt von G. deutlich erkennen läßt. Neben diesen Arbeiten stehen andere, die theils in den Heidelberger Jahrbüchern, theils in dem Archiv von Schlosser und Bercht, theils in den Blättern für litterarische Unterhaltung veröffentlicht worden sind. Sie umspannen kritisirend und selbständig darstellend einen weiten Kreis, stehen wol im Zusammenhang mit den bisher schon behandelten Stoffen der englischen, spanischen, italienischen Geschichte, weisen aber auch schon auf dasjenige Werk hin, welches ein [82] Jahrzehnt den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit gebildet, ihn beschäftigt hat bis an das Ende seines Lebens. Schon seit der Rückkehr von Italien drängte es ihn bei aller Fülle vielseitiger Arbeiten zu einer größeren litterarischen Production; er war getheilt zwischen den alten litterarisch-ästhetischen Neigungen und den mächtigen politischen Erregungen der ersten dreißiger Jahre. Er überließ, da er mit der Zeit selbst schwankte und dem Inhalt der Geschichtswissenschaft gegenüber sich in gleichem Interesse für dessen politischen, wie philosophischen Theil hielt, es dem Zufalle, wohin er ihn bestimmen wollte; er gab seinem Verleger, wie er selbst sagte, die Wahl zwischen einer Politik mit geschichtlicher Grundlage, deren Entwurf in der Anzeige von Dahlmanns Politik (Blätter für lit. Unterh. 1836) wohl zu erkennen ist, einer Geschichte der europäischen Staaten in der neueren Zeit und einer Geschichte der deutschen Dichtung. Der Verleger entschied sich ohne Bedenken für das Letztere, und die Nation darf ihm Dank wissen, daß er damit das Richtige getroffen. In 5 Bänden erschien so 1835 bis 1842, einmal mit längerer Unterbrechung, die „Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen“, dann (seit 1853) „Geschichte der deutschen Dichtung“ genannt, deren 5 Auflagen (die letzte 1870–1874, von Karl Bartsch vollendet) schon äußerlich beweisen, wie tief die Wirkung dieses Buches gewesen ist; einen Leitfaden durch das Ganze sollte das „Handbuch der Geschichte der poetischen Nationalitteratur“ geben. Alle Beurtheiler, von Jakob Grimm an bis zu den Kritikern der neuesten Zeit, sind darin einig, daß seine Litteraturgeschichte Epoche gemacht hat. Schon 1833 hatte G. das Programm einer Geschichte der Poesie festgestellt. Damals schrieb er bei Gelegenheit einer Anzeige (von Bohtz’ Geschichte der neueren deutschen Poesie, und Herzogs Litteraturgeschichte) in den Heidelberger Jahrbüchern (1833, S. 1196): „Der Historiker zeigt eines Gedichtes Entstehung aus der Zeit, aus deren Ideen, Bestrebungen und Schicksalen, sein inneres Verhältniß – Entsprechen oder Widerspruch – mit diesen, seinen Werth für die Nation, seine Wirkung in Mitwelt und Nachwelt, er vergleicht es zunächst blos mit dem Höchsten, was diese Zeit, diese Nation in dieser Gattung geleistet hat; er zeigt das engere Verhältniß des Gedichtes zu dem Dichter, sein Entstehen aus diesem, sein historisches Verhältniß zu ihm und seinen übrigen Werken; behandelt er nicht blos diesen Einen Dichter, so muß er je nach seinem Gesichtskreis das Verhältniß von Dichter und Gedicht zu der Zeit, zu der Nation, zu der europäischen Cultur, zu der gesammten Menschheit erörtern.“ Schon damals war also die Idee, daß nicht die ästhetische Kritik, sondern der historische Zusammenhang die Hauptsache in der Litteraturgeschichte sei, in ihm lebendig; durch die akademischen Vorträge, welche das Thema einige Male behandelten, gewann diese Idee bestimmtere Form, jetzt erst feste Gestalt und Leben. Im Vergleich zu den bisherigen Versuchen erscheint die Darstellung, welche G. von der deutschen Dichtung gibt, als eine „glänzende Entdeckung“, die zuerst das geistige Leben der Nation in genetischem Zusammenhang und in beständiger Doppelwirkung zu dem politischen Leben als ein organisches Ganzes gefaßt wissen wollte. Ein neuer Weg war der Wissenschaft geöffnet, dem sie seitdem gefolgt ist; erst seit Gervinus’ Werk war die Wissenschaft der modernen Litteraturgeschichte möglich. Von den ältesten Zeiten, deren dürftige Bruchstücke er fast zuerst zu einem Ganzen zusammengedacht hat, schritt er in lebendiger Darstellung bis zu der großen Höhe der Goethe-Schiller’schen Epoche vorwärts, „mit strömender Gedankenfülle schreibend und aus voller Brust für die Ehre des Vaterlandes“. Und diese patriotische Gesinnung, die Jakob Grimm so gern in seiner Anzeige des ersten Bandes betont, zieht sich durch das ganze Werk hindurch, immer auf die unmittelbare Gegenwart leitend, den Zusammenhang wahrend mit dem praktischen Leben. Sie hat [83] in der unpolitischen Zeit, in der G. zu schreiben anfing, das Volk auf das öffentliche Leben gewiesen und ihm wiederholt und in eindringlichem Wort ans Herz gelegt, daß es nun auf sich selbst sich besinnen und politisch werden müsse, nachdem es lange genug nur litterarisch gewesen. Aber noch bevor die Wirkung des Ganzen durch weite und immer weitere Kreise sich fortpflanzen konnte, eine der stärksten Wellen in der Bewegung des öffentlichen Geistes in Deutschland, hatte Gervinus’ äußere Stellung manche Wendung erfahren. Schon 1835 war er in Heidelberg zum außerordentlichen Professor ernannt worden, seine Vorlesungen, gleichmäßig über Geschichte, Politik und Litteraturgeschichte sich erstreckend, waren Hand in Hand mit seiner schriftstellerischen Thätigkeit gegangen. Nach dem Erscheinen des ersten Bandes seiner Litteraturgeschichte wurde er dann auf das Betreiben Dahlmanns, mit dessen historischer Richtung die seinige manche Berührungspunkte bot, nach Göttingen berufen. Ostern 1836 siedelte er nach dem Norden über, führte bald seine Braut Viktoria Schelver nach und durfte im Verkehr mit den Gebrüdern Grimm und Dahlmann, die den jüngeren als ebenbürtig in ihren Kreis aufgenommen hatten, in erhobener Stimmung seinem großen Werke sich widmen. Noch blieb für ihn neben dieser Arbeit und den mit größerem Eifer betriebenen Vorlesungen Zeit zu kleineren Publicationen. Damals erschien das wenig beachtete, eigenthümliche und für ihn charakteristische Schriftchen: „Gudrun, ein episches Gedicht, Programm und Probegesang“ (1836), ein Nachklang zugleich der alten poetischen Neigungen, wie der Studien über die mittelalterliche Dichtung, und als Vorstudie gleichsam für die späteren Theile der Dichtungsgeschichte das Büchlein: „Ueber den Götheschen Briefwechsel“ (1836), damals, wie ein frischer Gruß aus einem auch heiter bewegten Umgang, die „Geschichte der Zechkunst“, die ein Fragment geblieben ist (Blätter für litt. Unterhaltung 1836), damals endlich seine „Grundzüge der Historik“ (1837), ein Resultat langjährigen Nachdenkens und ein Thema öfterer Vorlesungen. Es waren frohe, glückliche, vielversprechende Tage, die G. in Göttingen verleben durfte, in die dann, den seltenen Kreis dieser hervorragenden Männer zu sprengen der Verfassungsbruch des Königs Ernst August hereinbrach. Die Geschichte der Sieben ist bekannt. Ihr Protest war eine That unerschrockener Mannheit in den Jahren Alles niederdrückender Reaction, und wie man sie aufnahm, zeigte, daß der Geist fügsamer Unterordnung anfing zu weichen.

Wieder wandte sich G. nach dem Süden, nach Darmstadt und Heidelberg; seine Stimmung, durch Familienschläge noch mehr getrübt, war eine bittere, wie er unverhohlen in der bekannten (damals vom Leipziger Censor gestrichenen) Vorrede zum dritten Band der Litteraturgeschichte, den er in Göttingen hatte vollenden können, aussprach. Er suchte den Eindruck zu heben und ging zum zweiten Male nach Italien, theils Kunststudien hingegeben, wie die „Venetianischen Briefe über neudeutsche und altitalienische Malerei“ (Blätter für litt. Unterhaltung 1839) beweisen, theils mit geschichtlichen Arbeiten, auch mit der Sammlung seiner „Kleinen historischen Schriften“ (1839) beschäftigt. Dann kehrte er nach Heidelberg zurück, um nun ganz der politischen Geschichte zu leben. Zunächst führte er seine Litteraturgeschichte (bis 1842) zu Ende, mit größerem Nachdruck als bisher die Nation an ihre politischen Aufgaben weisend. Auch die akademische Thätigkeit nahm er, seit 1844 als Honorarprofessor, wieder auf und sammelte in diesen Jahren der steigenden politischen Bewegung in seinen Vorträgen didaktisch und kritisch-politischer Natur, zumal in seinen Vorlesungen über Politik (1846 und 1847) einen weiten Kreis von nicht blos studentischen Zuhörern um seinen Katheder. Bald zieht das heller erwachte politische Leben auch seine schriftstellerische Thätigkeit direct in seine Kreise. Schon in der Charakteristik Georg Forsters, die er 1844 dem 7. Band der gesammelten Werke desselben [84] mitgab, sind die zum Handeln drängenden Bezüge auf die Politik mit Händen zu greifen, die „Mission der Deutschkatholiken“ (1846) führt auf das Gebiet der Tagespolitik hinüber, ohne daß sie bedeutende Theilnahme der mit großen Hoffnungen begrüßten, von ihren Leitern bald compromittirten Bewegung gewonnen hätte; nicht mehr reeller Erfolg wurde der Schrift: „Die preußische Verfassung und das Patent vom 3. Febr. 1847“ (1847) zu theil, deren ernste Mahnung von der preußischen Regierung ebenso sehr überhört wurde, wie die, welche er eben an die deutsche Nation gerichtet hatte, von dieser; ganz anders wirkte die „Adresse an die Schleswig-Holsteiner“, welche im Juli 1846 von Heidelberg ausging und G. zum Verfasser hatte; sie gab den Anstoß zu jener Agitation, in welcher das Volk zum ersten Mal wieder gemeinsames Handeln versuchte. In ganz unmittelbare Beziehung zu der Politik des Tages aber trat er, als die Gründung der „Deutschen Zeitung“ erfolgte, deren Programm Anfang 1847, ihre erste Nummer 1. Juli desselben Jahres erschien, von G. als Redacteur unterzeichnet. Die Bedeutung und der Einfluß dieser Zeitung, welche als Organ der konstitutionellen Mittelpartei gelten konnte, weisen ihr eine wichtige Stellung in der Bewegung dieser Jahre an. Bis zum Juli 1848 flossen fast alle Leitartikel aus der Feder von G., vom 21. November desselben Jahres bis Ende Mai 1849 lassen die vielgelesenen Briefe vom Rheine seine scharf kritisirende, oft zürnende und Unheil weissagende Stimme hören. Seine politische Ansicht und Haltung kann ohne diese Aufsätze nicht verstanden werden; seltener, als man gewöhnlich annimmt, zeigen sie den einseitigen Doctrinär, meist den Politiker, der ruhiger und richtiger als andere denkt, immer den rücksichtslosen Bekenner seiner Ueberzeugung. An der Gestaltung der politischen Dinge selbst hat er unmittelbar eingreifend wenig Antheil genommen; es war freilich dem hohen Ansehen, das er genoß, entsprechend, daß ihn die Hansestädte im März 1848 als Vertrauensmann zum Bundestag sendeten, daß er so an dem Verfassungsentwurf der Siebzehn seinen Antheil nahm, daß ihn ein Wahlbezirk der Provinz Sachsen zum Mitglied der Nationalversammlung wählte. Aber in Frankfurt hielt er sich mehr als Beobachter zurück, er hat nie in der Paulskirche gesprochen und zog es bald vor, sein Mandat niederzulegen, als der praktische Weg ihm verlassen schien; im Juli 1848 trat er aus der Versammlung aus und suchte in einem mehrmonatlichen Aufenthalt in Italien Erholung für seine stark geschwächte Gesundheit. Nach seiner Rückkehr wandte er von Neuem seine Wirksamkeit der „Deutschen Zeitung“ zu, deren Redaction er mit seinem Austritt aus dem Parlament aufgegeben hatte, stand aber den Ereignissen selbst ferne. Nur der schleswig-holsteinischen Sache, deren Förderung er seit 1846 für seine Ehrenpflicht hielt, blieb er unmittelbar nahe; aber vergebens waren die Staatsschriften, die er verfaßte (von denen das bei Ablauf des Waffenstillstandes erlassene Manifest und die Antwort auf die Forderung des Bundestages, die Waffen niederzulegen, besonders zu nennen sind), ohne Erfolg die Reise nach England, die er im Auftrag der Statthalterschaft 1850 unternahm, ihr dort vielleicht die Hülfe zu verschaffen, welche die deutschen Regierungen verweigerten, welche das deutsche Volk nicht ersetzen konnte. Dann kam von Neuem die Zeit, in der sich „der Einzelne wehmüthig auf sein Ich zurückzieht“; wieder schien die Nation in die Litteratur zurückgeworfen, die sie nach Gervinus’ Meinung schon längst mit der Politik hätte vertauschen sollen. Und nun galt es ihm als höchste Aufgabe, aus der Litteratur selbst eine Schule der Politik zu machen. Im April 1849 erschien der erste Band seines Werkes über „Shakespeare“, dem bis 1850 drei weitere Bände folgten; die Vorrede sagt klar, wie der Verfasser das Werk genommen wissen wollte: nicht als ästhetischen Genuß, sondern als sittliche Stärkung, „denn selbst die Genüsse des Geistes können der Art sein, daß sie ein Sporn unserer handelnden Thätigkeit [85] und Wirksamkeit werden, daß sie neben Gemüth und Einbildungskraft auch den praktischen Verstand beschäftigen und die Willenkraft zu Entschlüssen bestimmen“. So hatte er selbst im Dichter Erholung gefunden, so hoffte er, daß an seiner Hand die Nation durch den Dichter zu sich selbst zurückkehre. Und noch mehr dachte er in diesem Sinne zu wirken durch das große historische Werk, das, wie er selbst sagt, am tiefsten mit seinem ganzen Lebensplan verwebt scheint, mit der Geschichte des 19. Jahrhunderts. Um sich über Idee und Aufbau dieses Werkes klar zu werden, sich mit der Meinung Anderer und der eigenen auseinander zu setzen, schickte er eine „Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts“ (1853) voraus, ein merkwürdiges Büchlein, eine Geschichtsphilosophie und Zukunftshistorie zugleich, vielleicht auch eine Rechtfertigung der eigenen, durch die Ereignisse modificirten Meinung, eine Schrift indessen, welche, wie Dahlmann fein bemerkt, mehr aus- als einleitet. Ein unbegreiflicher Schritt der damaligen Regierung Badens wird es immer bleiben, daß sie auf Grund der „Einleitung“ die Anklage des Hochverrathes und der Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung durch die Presse gegen G. erhob, fast unbegreiflicher mag dem, welcher heute die Proceßacten durchgeht, erscheinen, wie das Mannheimer Hofgericht sich zu der Frage stellte, nur das Specialvotum Brauers, die Reden des Angeklagten und seines Vertheidigers Soiron könnten ihn anziehen. Der Proceß, mit soviel Emphase von der Staatsanwaltschaft begonnen, führte zu einer partiellen Verurtheilung und schloß mit einer Cassation des Urtheils durch das Oberhofgericht, das die Inkompetenz der bisher angerufenen Gerichte erklärte. Damit hielt es auch die badische Regierung für gerathen von weiteren Schritten abzustehen, nur die Genugthuung, G. zunächst die venia legendi zu entziehen, konnte sie sich nicht versagen. Auf diesen selbst machte die Sache wenigstens momentan einen verbitternden Eindruck, doch durfte er an der Theilnahme der ganzen Nation erkennen, wie tief er im Herzen des Volkes lebte. Von nun an widmete er sich fast ganz der wissenschaftlichen Arbeit, von der Theilnahme an der politischen Arbeit nicht völlig abgewendet – wie er im Frühjahr 1860 und später noch einmal daran gedacht hat, die Deutsche Zeitung zu erneuern – und bewältigte mit erstaunlicher Kraft und Ausdauer den ungeheueren Stoff, den die „Geschichte des 19. Jahrhunderts“ ihm zuführte. In 11 Jahren (1855–1866) erschienen acht Bände derselben, die freilich nur bis zur Julirevolution und deren nächsten Folgen herabgehen. Das großartig angelegte Werk, das bei der Unvollständigkeit der Quellen (der Inhalt der Archive war nur an einigen Stellen dem Verfasser zugänglich gemacht worden) nicht allen Anforderungen abschließend genügen, jedoch den ungefügen, spröden Stoff zum ersten Mal von hohen Gesichtspunkten aus gruppiren und gestalten, den Faden der politischen und geistigen Entwicklung mit sicherer Hand bloslegen konnte, ist nicht vollendet worden. Gerade an der Schwelle der Jahrzehnte, welche G. als Mitlebender und Mithandelnder hätte schildern können, brach der Geschichtsschreiber ab. In tiefer Verstimmung über den Gang der politischen Dinge gab er zunächst die Arbeit, welche mit so viel Eifer begonnen worden war, auf und suchte noch einmal Erholung für Körper und Gemüth im Süden. Unter der angestrengtesten Thätigkeit für sein Geschichtswerk war ihm Zeit geblieben einem Freunde, Georg Friedrich Fallenstein, Erinnerungsblätter, die nicht in den Buchhandel gekommen sind, zu weihen, hatte er mit frischem Enthusiasmus für die Errichtung eines Steindenkmals in Nassau geworben und gesammelt, war er vor Allem bedacht gewesen, die Tonwerke Händels in Deutschland „zurückzubürgern“. Die Anregung zu der Statue, die dem Tondichter in seiner Vaterstadt Halle gesetzt wurde, zu der Gründung einer deutschen „Händelgesellschaft“, zu der Herausgabe der Werke Händels durch diese Gesellschaft waren von ihm ausgegangen. Einer tiefernsten Pflege dieses [86] Künstlers, die im Hause Thibauts in den zwanziger Jahren ihren Anstoß erhielt, dann eine mit gemüthlicher Innigkeit gefaßte Aufgabe des Hauses für ihn und seine Frau wurde, ist diese besondere Thätigkeit, welche sich durch das ganze Leben von G. hindurchzieht, entsprungen. Im Zusammenhange mit ihr entstanden die Uebertragungen der Oratorientexte Händels, die seine Wittwe nach seinem Tode (1873) herausgab, entstand vor Allem sein „Händel und Shakespeare“ (1868), ein Buch, das aus jahrelangen, tiefen Studien herauswuchs, und nicht sowol eine Parallele zwischen den beiden Künstlern, als eine Art Philosophie der Musikgeschichte und eine geistig begründete musikalische Kunstlehre enthält, deren Belege eben ausschließlich aus Händels Werken genommen werden. Und gleichzeitig waren die Gedanken des rastlosen Mannes auf eine Umarbeitung seiner „Geschichte der deutschen Dichtung“ gerichtet, die, wie er wohl sagen durfte, keinen Stein auf dem andern ließ, der seine letzte Thätigkeit gewidmet sein sollte. Es ist noch nicht vergessen, wie er dem ersten Band jene Vorrede mitgab, die mitten in dem nationalen Aufschwung des großen Krieges von 1870 seine muthige Wahrheitsliebe ihm abrang. Daß sie tief verletzen mußte, war natürlich, daß sie nicht mit dem taktvollen Schweigen aufgenommen wurde, wie es diesem Manne gegenüber sich ziemte, ist wol zu beklagen. Immer aber wird es ein dankbares Andenken schmerzen, daß er, der (wie Jakob Grimm von ihm sagt), so tapfer für die Herrlichkeit des Vaterlandes gestritten, in offenem Zwiespalt mit seinem Volk geschieden. Noch bevor die Erregung, die in den „Hinterlassenen Schriften“ (Wien 1872) so fühlbar nachklingt, sich mildern konnte, ist G. am 18. März 1871 einem fast jähen Tod erlegen.

G. ist mit der geistigen und politischen Entwicklung des deutschen Volkes im 19. Jahrhunderts innig verwachsen, darf Jahre lang als ein Bahn brechender Führer der öffentlichen Meinung gelten. Der Macht seines meist geschriebenen Wortes, dem Eindruck seines hohen sittlichen Charakters verdankt er seine Bedeutung. In dem ersten Werke, das ihm einen Namen gibt, weist er einer jungen Wissenschaft neue Bahnen, in Allem, was er schreibt, setzt er durch Geist und Gelehrsamkeit, durch wahrheitsstrengen Ernst und tiefes vaterländisches Gefühl die Gedankenwelt der Gebildeten seines Volks in Bewegung; immer ist dabei sein Sinn auf die politische Bildung, die staatliche Erziehung der Nation gerichtet, immer sucht er der Wissenschaft zu dienen und dem Leben nicht fremd zu werden. Manche seiner Arbeiten werden überholt, andere in ihren Urtheilen geändert, nie wird, was er geleistet, nie wird er selbst vergessen werden.

Das Verzeichniß der Schriften von G. findet sich am vollständigsten bei „Gervinus“ von Richard Gosche, 2. Abdruck, Leipzig 1871. Die über ihn nach seinem Tode erschienene Litteratur ist am genauesten in der „Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins“, Band 25 und in der „Germania“, Band 17 zusammengestellt. Besonders anzuführen ist: Eine Selbstbiographie, die sich unter seinen Papieren findet und bis zum Jahre 1836 reicht; sie wird erst nach dem Tode seiner Wittwe veröffentlicht werden. Ferner: G. und seine politischen Ueberzeugungen, ein biographischer Beitrag, Leipzig, Engelmann 1853. – Taillandier, Gervinus, Revue des deux mondes 1856, Mars).Emil Lehmann, G., Versuch einer Charakteristik, Hamburg 1871. – Rückert, Unsere Zeit, 1871. – H. Grimm, Preuß. Jahrb. 1871, Band 27. – Ranke, Sybels hist. Zeitschrift, 1872, Band 27. – Hillebrand, Preuß. Jahrb. 1878, Band 32.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: prakischen