ADB:Graßmann, Hermann

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Graßmann, Hermann“ von Moritz Cantor, August Leskien in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 595–598, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gra%C3%9Fmann,_Hermann&oldid=- (Version vom 26. April 2024, 15:49 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Band 9 (1879), S. 595–598 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Hermann Graßmann in der Wikipedia
Hermann Graßmann in Wikidata
GND-Nummer 118541617
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|9|595|598|Graßmann, Hermann|Moritz Cantor, August Leskien|ADB:Graßmann, Hermann}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118541617}}    

Graßmann: Hermann G., einer der bedeutendsten Mathematiker unserer Zeit und zugleich hervorragender Sprachforscher und Sanskritist, geb. am 15. April 1809 in Stettin, † am 26. September 1877. G. erhielt seine Schulbildung auf dem königlichen und Stadtgymnasium seiner Vaterstadt, wo sein Vater Justus Günther G. (s. u.) Professor der Mathematik war, und bezog 1827 die Universität Berlin, um Theologie zu studiren; namentlich Neander und Schleiermacher wirkten auf ihn; zugleich trieb er unter Böckh philosophische und privatim mathematische Studien. Seine glänzende Begabung ermöglichte es ihm während seines Lebens in die verschiedensten Gebiete einzudringen und Ausgezeichnetes zu leisten. 1830 nach Stettin zurückgekehrt, bestand er 1831 das Examen pro facultate docendi in den alten Sprachen und erlangte beschränkte Facultas für Mathematik, 1834 das erste theologische Examen. Im selben Jahre trat G. als Lehrer der Mathematik an die Berliner Gewerbeschule, kehrte aber 1836 als erster wissenschaftlicher Lehrer an der Ottoschule in Stettin angestellt dahin zurück und blieb in dieser Stelle bis 1842. Inzwischen hatte er 1839 das zweite theologische Examen bestanden und 1840 in einer Nachprüfung die volle Facultas für Mathematik erlangt. Bei einer der ihm dabei vorgelegten schriftlichen Aufgaben über Ebbe und Flut benutzte er bereits die Principien der sogenannten Ausdehnungslehre, von welcher nachher die Rede sein wird; es scheint sehr fraglich, ob seine Examinatoren im Stande waren, seine Bearbeitung der Frage wirklich zu verstehen. 1842 am Gymnasium in Stettin angestellt, ging er 1843 an die Friedrich-Wilhelmsschule (Realschule 1. Ordnung) über und blieb an dieser bis 1852, in welchem Jahre er als Nachfolger seines Vaters in die Stelle eines ersten Mathematikers am Gymnasium eintrat. Diese Stelle bekleidete er bis an sein Lebensende.

Seine litterarische Thätigkeit war eine überaus reiche und vielseitige. Aus dem chronologischen Zusammenhang herausgerissen sei hier ein deutsches Lesebuch für die Schule, ein Buch über die deutschen Pflanzennamen, eine von 1861–72 entstandene handschriftliche Sammlung von Volksweisen, die er dreistimmig gesetzt hatte, ein nachgelassenes theologisches Werk „Ueber den Abfall vom Glauben“ genannt. Erwähnt sei sein reges Interesse an politischen und religiösen Dingen, welches in bewegten Epochen zu umsturzfeindlicher Wirksamkeit sich steigerte, erwähnt eine zeitraubende, wenn auch das Herz befriedigende Beschäftigung mit der Erziehung von zahlreichen Kindern, deren 8 den Vater überlebten; um so bewundernswürdiger sind die Früchte, welche G. auf seinen beiden eigentlichen Arbeitsfeldern zeitigte. Als Mathematiker schrieb G. zuerst „Die Wissenschaft der extensiven Größe oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische [596] Disciplin“. Das Buch erschien 1844 bei O. Wigand in Leipzig, fand nicht einmal einen Recensenten, noch weniger Käufer und wurde in fast vollständiger Auflage eingestampft! Und doch hatte G. eine Selbstbesprechung seines Werkes auf den Wunsch von Professor Grunert in dem von diesem herausgegebenen Archiv der Mathematik und Physik, Bd. VI S. 337–50 (Greifswald 1845) veröffentlicht, in welcher man heute die Spuren bedeutsamster Forschungen wiedererkennt, denen die neueste Mathematikerschule sich zugewandt hat, seit Graßmann’s Vorarbeiten, man kann wol sagen, wieder entdeckt wurden, ein Verdienst, welches hauptsächlich R. F. A. Clebsch und H. Hankel zukommt. Die Ausdehnungslehre ist (um Graßmann’s eigene Worte zu gebrauchen) „die von allen räumlichen Anschauungen gelöste, rein mathematische Wissenschaft, deren specielle Anwendung auf den Raum die Raumlehre ist“. Die Meinung ist die, daß unsere gewöhnliche Geometrie in allen ihren Theilen einen doppelten Charakter zeige: einen empirischen, insofern der uns wirklich gegebene Raum mit seinen erfahrungsmäßigen Eigenschaften zum Denkobjecte gemacht sei, und einen aprioristischen, insofern die Denkgesetze zur Anwendung kommen. Es müsse möglich sein, die Denkgesetze wie ihr Object von dem blos Zufälligen loszutrennen. Es sei ein Zweig der Mathematik nothwendig, welcher in den Begriff der stetig veränderlichen Größe zugleich den Begriff von Verschiedenheiten, von Dimensionen aufnimmt, ohne an die drei Dimensionen unserer menschlichen Erfahrung sich zu binden, und dieser Zweig der Mathematik heißt eben bei G. Ausdehnungslehre. Es ist in ihr vorbereitet, was man seit Riemann Mannigfaltigkeiten zu nennen pflegt, eine Functionslehre in geometrischem Gewande mit geometrischen Namen, denen nur in speciellen Fällen auch ein geometrisches Bild entspricht. Wie aber geometrische Namen für Begriffe auftreten, welche nicht räumlich im Erfahrungssinne sind, werden an diesen Operationen ausgeübt, welche mit dem Beweisverfahren und mit den Construktionen der Geometrie früher nie in Verbindung gesetzt worden waren. Die durch zwei Punkte geführte Gerade ihrer Größe und Länge nach als Multiplikation der zwei Punkte, das zwischen drei Punkten vorhandene Dreieck dem Flächenraume und der Lage seiner Ebene nach als Multiplikation der drei Punkte aufgefaßt zu finden, das mußte damals eine abschreckende Wirkung ausüben, zu einer Zeit, in welcher der Name des Verfassers der betreffenden Schrift noch nicht genügte, um bei mangelhaftem Verständniß die Schuld an dem Leser finden zu lassen. Wer konnte z. B. in dem sogenannten combinatorischen Produkte Graßmann’s sofort die Determinanten wieder erkennen, welche in Deutschland sich kaum erst durch die klassischen Abhandlungen Jacobi’s im 22. Bande von Crelle’s Journal (1841) eingebürgert hatten, und deren geometrische Verwerthung erst im Beginnen begriffen war? Wem gelüstete es den in nicht leichter sprachlicher Einhüllung vorgetragenen Untersuchungen über Functionen complexer Größen, die sich nicht einmal als solche gaben, nachzugrübeln? In Deutschland scheint fast nur Moebius die Ueberzeugung gewonnen zu haben, daß hier mehr vorlag als unklar Gedachtes und unklarer Gesagtes, und seinem Einflusse dürfte es zuzuschreiben sein, daß alsbald nach Erscheinen der Ausdehnungslehre die Jablonowski’sche Gesellschaft zu Leipzig die Preisaufgabe stellte, den von Leibnitz erfundenen geometrischen Calcül zu erneuern und weiter auszubilden. Leibnitz hatte bereits 1679 in Briefen an Huygens als wunde Stelle der gemeinen Algebra erkannt, daß sie Längen, aber nicht unmittelbar die Lage, die Winkel, die Bewegung, welche den Linien und ihren einzelnen Punkten zukommen, in Rechnung bringe, daß eine eigentlich geometrische Analyse fehle, welche den situs in Formel bringe, gleichwie die Algebra magnitudinem. Das von Leibnitz Geforderte war in Graßmann’s Ausdehnungslehre mindestens begonnen, und so konnte G. sich durch die Stellung jener Preisaufgabe wol [597] aufgefordert fühlen, auf der eingeschlagenen Bahn eine Lösung zu versuchen. Seine eingereichte Abhandlung wurde 1846 gekrönt, wurde, begleitet von einer durch Moebius verfaßten erläuternden Abhandlung, welche die Beziehungen zu seinem eigenen barycentrischen Calcul betraf, in den Denkschriften der genannten Gesellschaft abgedruckt, um in denselben begraben zu bleiben. Weder der akademische Erfolg noch die Veröffentlichung von Aufsätzen, die sich stets mit neuen Anwendungen seiner Analyse beschäftigten, in Crelle’s Journal vermochten Graßmann’s Namen und mit ihm seine Leistung zu popularisiren, vermochten das früher erwähnte Schicksal seiner Ausdehnungslehre abzuwenden. Erst die zweite Auflage der Ausdehnungslehre, welche die Enslin’sche Verlagshandlung in Berlin 1862 zu veranstalten den Muth hatte, brach sich Bahn. Theils war inzwischen die Entwicklung der Mathematik in Deutschland um ein Beträchtliches weiter vorgeschritten, theils hatte G. den allgemein gebräuchlichen Benennungen sich unterworfen und damit zur etwas leichteren Verständlichkeit seines Buches das Seinige beigetragen. In das größere mathematische Publikum suchte ihm weitere 10 Jahre später ein begeisterter Schüler Victor Schlegel[WS 1] durch ein „System der Raumlehre nach den Principien der Graßmann’schen Ausdehnungslehre und als Einleitung in dieselbe dargestellt“ (1872–75) Eingang zu verschaffen, und auch ein französischer Schriftsteller J. Houel[WS 2] hat in seinem Cours de calcul infinitésimal, Paris 1878, Graßmann’s Ideen und Bezeichnungen in seiner Heimath zur Geltung zu bringen gewußt. Ein Jahr vor der zweiten Auflage der Ausdehnungslehre hatte G. ein „Lehrbuch der Arithmetik für höhere Lehranstalten“ (1861) erscheinen lassen, auf welches er selbst offenbar kein großes Gewicht legte, da es (ebenso wie übrigens die zweite Auflage der Ausdehnungslehre) in dem auf Originalmittheilungen sich gründenden Artikel G. in Poggendorff’s biographisch litterarischem Handwörterbuch fehlt. Hier wandte er die Grundsätze der allgemeinsten Formenlehre noch voraussetzungsloser auf Zahlengrößen an und lieferte Beweise für die einfachsten Sätze der Rechenkunst, die an Strenge alle früheren Versuche übertreffen und von welchen einige in H. Hankel’s Vorlesungen über die complexen Zahlen I (einzigen) Theil, 1867, übergegangen sind. Bei solcher Vertiefung in alle Aufgaben, die er sich stellte, wird es begreiflich, daß G. 1868 gegen Professor Junghans sich äußern mochte, die Mathematik sei eine zu hirnzersprengende Wissenschaft, er treibe jetzt Sanskrit zu seiner Erholung. Allerdings mag zu der zeitweisen Untreue gegen die mathematischen Studien nicht stets und nicht blos geistige Uebermüdung G. geführt haben. Die glückliche Ruhelosigkeit und Finderfreude der vierziger Jahre, von welchen G. noch 30 Jahre später mit Entzücken zu seinem Freunde, Professor Delbrück[WS 3], sprach, war doch wol unter dem Sturzbade kühler Ablehnung der Zeitgenossen erstarrt und mußte eine andere Thätigkeit, gleichviel welche, als fruchtbringender vermuthen lassen.

Seine ersten Abhandlungen auf dem Gebiete der vergleichenden Grammatik erschienen in Kuhn’s Zeitschrift f. vgl. Sprachw. von 1860 an und erregten verdientes Aufsehen (namentlich: „Ueber die Aspiraten und ihr gleichzeitiges Vorhandensein im An- und Auslaut der Wurzeln“, Bd. XII, 1863). Da er erkannte, daß die Kenntniß des Sanskrit und vor Allem der vedischen Sprache eine der wichtigsten Grundlagen aller selbständigen Forschung in diesem Fache sei, warf er sich mit der ihm eigenen Energie, nur wenig unterstützt von den damals noch unvollständigen Hülfsmitteln, auf eine der schwierigsten aller philologischen Aufgaben, das Verständniß und die Erklärung des Rigveda. Die Frucht seiner Studien war das „Wörterbuch zum Rigveda“ (1872–75) und „Rig-Veda. Uebersetzt und mit kritischen und erläuternden Anmerkungen versehen“ (2 Bde. 1876–77). Diese Werke, wenn auch nicht von der selbständigen Bedeutung innerhalb der Sanskritstudien, wie Graßmann’s mathematisches Hauptwerk [598] in der Mathematik, werden doch in jener Disciplin stets einen hervorragenden Platz einnehmen.

War G. vorwiegend Mathematiker und Sprachforscher, gelang es ihm auf beiden Gebieten, auf dem einen früher, auf dem anderen später, zur Anerkennung zu gelangen, so blieben Verdienste, die er in der Physik sich erwarb, noch unbekannt, als Graßmann’s Name bereits ein hochberühmter war. Er selbst mußte hier die Erinnerung an zwei bedeutsame, aber unbemerkt gebliebene Leistungen auffrischen. G. veröffentlichte schon 1845 in Poggendorff’s Annalen einen Lehrsatz über die gegenseitige Einwirkung zweier elektrischer Stromtheile, welchen Clausius selbständig im J. 1876 nachentdeckte. Ebenso legte G. in einem Schulprogramme von Stettin für 1854 die Lehre von der Bildung der Vocale durch Obertöne, von ihm als harmonische Nebentöne bezeichnet, nieder. Seit 1859 Helmholtz, ohne eine Ahnung von Graßmann’s Programm zu besitzen, dieselbe Lehre aufstellte und ausbildete, ist sie Gemeingut der Wissenschaft geworden. Graßmann’s Richtigstellung der Zeitfolge der beiden Veröffentlichungen findet sich in dem früher erwähnten Aufsatze vom 19. Mai 1877.

Im öffentlichen Leben war G. nur während der Bewegung von 1848 in dem schon angedeuteten Geiste thätig; mit seinem Bruder Robert gründete er die „Deutsche Wochenschrift für Staat, Kirche und Volksleben“, die nach kurzem Erscheinen abgelöst wurde durch die „Norddeutsche Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe“. – Bei seiner eminenten und vielseitigen Begabung war er von Herz und Gemüth der reinste, kindlichste und treueste Mensch.

Victor Schlegel, H. Graßmann, Sein Leben und seine Werke, Leipz. 1878 (mit vollständigem Schriftenverzeichmiß). Nekrolog von B. Delbrück in der Augsb. Allg. Ztg. 1877, Nr. 291 Beil. Nekrol. von F. Junghans in der Neuen Stettin. Ztg. v. 17. Nov. 1877. Nekrol. von R. Sturm, E. Schroeder und L. Sohncke in den Mathematischen Annalen Bd. XIV, Heft 1. 1878.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Victor Schlegel (1843–1905), deutscher Mathematiker.
  2. Guillaume-Jules Hoüel (1823–1886), französischer Mathematiker.
  3. Berthold Delbrück (1842–1922), deutscher Sprachforscher und Indogermanist.