ADB:Müller, Otfried

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Artikel „Müller, Otfried“ von August Baumeister in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 22 (1885), S. 656–667, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:M%C3%BCller,_Otfried&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 23:40 Uhr UTC)
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Band 22 (1885), S. 656–667 (Quelle).
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Müller: Karl Otfried M., einer der hervorragendsten Vertreter der classischen Philologie in diesem Jahrhundert. Am 28. August 1797 zu Brieg in Schlesien geboren als der älteste Sohn einer wackeren Predigerfamilie, war er mit Sorgfalt erzogen und hatte von der ersten Jugend an durch sein gewandtes und zugleich liebenswürdiges Wesen im Vaterhause die schönsten Hoffnungen wachgerufen. Auf dem Gymnasium in Brieg, in welches er zum Herbst 1806 als Quartaner eintrat, hatte er sofort die Aufmerksamkeit des trefflichen Directors Schmieder erregt: schon seit 1808 war er bei jeder Feierlichkeit öffentlich in Prosa oder in Versen mit eigenen Versuchen aufgetreten, hatte Preisaufgaben gelöst, Abschiedsreden an die Abiturienten gehalten, und bei einer Revision der Schule im J. 1812 auch die Aufmerksamkeit des Schulraths Bredow erregt, den er mit einigen extemporirten lateinischen Versen begrüßen konnte. Nur weil sein Körper den Anstrengungen eines Feldzuges nicht gewachsen war, hatte er sich den Kämpfern für Freiheit und Vaterland nicht beigesellt, sondern verließ erst Ostern 1814 nach vierjährigem Besuche der Prima die Schule und bezog die Universität Breslau. Hier betrieb er anfangs sehr verschiedenartige Studien fast gleichzeitig; Mathematik und Botanik, alte und neue Sprachen (darunter Hebräisch, Syrisch, Italienisch), Religion und Philosophie, daneben Zeichnen und Turnen. Die philosophischen Vorträge von Henrik Steffens zogen ihn besonders an. Schon während des ersten Studienjahres machte er sich an die Lösung zweier Preisaufgaben, einer philosophischen über die Kantische Kritik der Beweise vom Dasein Gottes, und einer historischen über die Geschichte der Makkabäer; und er gewann beide Preise. Indessen trugen die Philologen J. G. Schneider, Passow und insbesondere Heindorf, dessen er immer mit großer Dankbarkeit gedachte, zur Entwickelung seines philologischen Triebes bei. Nachdem aber Heindorf ihm Niebuhrs Römische Geschichte in die Hände gegeben hatte, empfing er von dieser nach eigenem Geständniß den mächtigsten Eindruck, und die Richtung seines Geistes war fortan entschieden: er begann bereits eine kritische Geschichte Numas und einen Versuch über die älteste Nationalpoesie der Römer auszuarbeiten. Die gründliche, allseitige, vorzugsweise historische Erkenntniß des classischen Alterthums ward jetzt die Aufgabe seines Lebens, welcher er unentwegt treu geblieben ist. Zu Ostern 1816 ging er nach Berlin, und begann dort mit einer über sein Alter hinausgehenden Energie das gesteckte Ziel zu verfolgen. Aber Fr. Aug. Wolf stieß ihn ab; dagegen wurde der jugendliche Böckh bald sein Leitstern und zwar besonders durch die Uebungen im Seminar. In dieser Anstalt fand er auch seinen zweiten Förderer, den Grammatiker Ph. Buttmann, welcher damals eben die Aufsätze seines Mythologus schrieb. Beide Lehrer öffneten ihm auch ihr Haus und gewährten ihm die Möglichkeit, im mündlichen Gedankenaustausch seine Ideen zu erweitern und zu vertiefen. Das eben erscheinende systematische Hauptwerk Böckh’s: „Die Staatshaushaltung der Athener“ wurde durch die Methode der Forschung sowie durch die großartige Betrachtungsweise ihm zum Musterbilde für seine gleichartigen Arbeiten während des nächsten Jahrzehnts. Der Forschungstrieb Müller’s war von jetzt ab unersättlich, wobei ihn eine glückliche Gesundheit unterstützte. „Eine 16stündige tägliche Arbeit war ihm nicht zu viel: nie sah man ihn abgespannt oder angegriffen. Nur die Abwechslung der Studien und die Gespräche mit den verehrten Lehrern waren seine Erholung.“ – Nachdem er sich anfänglich mit den samothrakischen Mysterien beschäftigt hatte, welche ihn auch zu Sanskritstudien veranlaßten, unterwarf er auf Böckh’s Rath, von dieser „Oede Dardaniens“ sich abwendend, die ächt hellenische Insel Aegina einer allseitigen Betrachtung, woraus im Zeitraume eines Jahres sein bedeutungsvolles Erstlingswerk hervorging, welches gedruckt wurde, nachdem der Verfasser am 25. October 1817 promovirt war und damit als Zwanzigjähriger seine studentische [657] Laufbahn bereits beschlossen hatte. „Aegineticorum liber scripsit Carolus Mueller Silesius“ Berolini 1817, gedruckt (auf Böckh’s Empfehlung) auf „Reimerischem Löschpapier“, 206 Seiten stark, mit einer Widmungsvorrede an Böckh, heißt die in mehr fließendem als gewähltem Latein abgefaßte Monographie, welche mit staunenswerther Belesenheit und zugleich mit beherrschendem Ueberblick und sicherem Urtheil die Sagen, Geschichten und Alterthümer der Insel im weitesten Umfange kritisch durchforscht enthält und für viele Hunderte specieller Stadt- und Landschaftsgeschichten das Vorbild, wenigstens das äußere Schema, geliefert hat. Schon hier offenbart sich das wunderbare Talent Müller’s, aus halbverloschenen Spuren in Mythe, Sage und Volksmärchen die historischen Beziehungen und Erinnerungen einer Volksgemeinschaft aufzufinden und durch seine Combinationen insbesondere aus gottesdienstlichen Notizen historisches Material für verwandtschaftliche Verbindungen und Eigenthümlichkeiten der Volksstämme zu gewinnen. Für die geographische Beschreibung werden die (damals) neuesten Reisewerke bis in alle Einzelheiten verwerthet; genaue Untersuchungen über Münzwesen, Handel, Seewege, über Volkszahl und Sclaven, über Staatsrecht und Stammessitte, endlich insbesondere über die äginetische Kunst vervollständigen das Culturbild, dessen Elemente in streng wissenschaftlicher Form hier ausgebreitet, doch ohne jede Schönmalerei vorgelegt werden. An zahlreichen Stellen betont der Verfasser gerade, wie viel man nicht wisse. – Die Schrift erregte mit Recht bedeutendes Aufsehen, als sie Ende des Jahres erschien; Böckh selbst zeigte sie (gegen seine Gewohnheit) in den Heidelberger Jahrbüchern an und schreibt dem Verfasser, daß er ihm „nicht viel anhaben“ könne, er habe nur „einige sehr bescheidene Bemerkungen“ gemacht. M. aber, der auf Buttmann’s Rath fortan sich noch den unterscheidenden Schriftstellernamen Otfried selbst beilegte, trat nach kurzem Verweilen im Vaterhause zu Neujahr 1818 eine Stelle als letzter Lehrer am Magdalenäum in Breslau an, die mit 450 Thalern dotirt war. Der Wunsch, in einer Universitätsstadt mit großer Bibliothek zu leben, bestimmte ihn, eine bessere Stellung in Frankfurt a. O. auszuschlagen. Zwar fühlte er sich anfänglich bei einer sehr untergeordneten Thätigkeit in Quarta und Kleintertia wenig behaglich, auch war seine hervorragende Größe dem Neide kleinerer Geister ausgesetzt; allein um so eifriger vertiefte er sich in neue wissenschaftliche Aufgaben. Das böotische Orchomenos und der Stamm der Minyer mit dem buntverschlungenen Knäuel nordgriechischer Mythen (darunter besonders die Argonautensage) und der früh untergegangenen Cultur hatte ihn angezogen und die rasch erstandene großartige Studie, welche 1820 bei dem ihm befreundeten Breslauer Verleger Josef Max im Druck erschien, trug den bezeichnenden Haupttitel „Geschichten hellenischer Stämme und Städte. Erster Band: Orchomenos und die Minyer.“ Aus den verlegensten Bruchstücken und Notizen hat M. auch hier verstanden ein bis dahin völlig im Dunkel liegendes Gebiet nach Möglichkeit aufzuhellen, durch scharfsinnige Combinationen Zusammenhänge überraschender Art aufzudecken und insbesondere aus der Verästelung und Verflechtung des Mythengewirres schätzbare historische Thatsachen zu gewinnen. Das bis dahin als eine ziemlich gleichgeartete Masse behandelte Hellenenvolk nach seinen eingebornen Besonderheiten der Stämme scharf zu charakterisiren und darnach die politischen Gegensätze, die Mannigfaltigkeit der Hervorbringungen in der Kunst, die Scheidung in der Sitte, die Verschiedenartigkeit in Auffassung und Verehrung der Götter hervorzuheben und aus jenen Eigenthümlichkeiten zu begründen, dies war das Hauptziel jener Studien, die er in fortwährend umfassenderer und eindringenderer Weise betrieb. Bei der Leichtigkeit und Rastlosigkeit, mit welcher er arbeitete, war das Buch schon vor Ende des Jahres druckfertig. Zu gleicher [658] Zeit besserten sich seine Schulverhältnisse, indem er durch den Abgang zweier Collegen einigen Unterricht in den Oberklassen, namentlich Thukydides in Prima bekam. Uebrigens war er auch keineswegs heiterer Geselligkeit abgeneigt; eine gewisse Schüchternheit und Ungelenkigkeit, die ihm vorher eigen gewesen, war ganz geschwunden; er scherzte gern und machte, wie schon früher, öfters Verse; namentlich aber führte er ein idyllisch behagliches Zusammenleben mit seinem Bruder Julius (dem später berühmten Theologen), der 1819 die Universität bezog. Von den „litterarischen Häuptern Breslaus“ hat er sich freilich bald abgesondert, wie er in den schönen und traulichen Briefen an seinen verehrten Lehrer Böckh schreibt; auch die Masse der Uebrigen spricht nur vom Turnen und treibt „Deutschheit“; aber ein Kreis jüngerer Freunde, wie Dronke und Wellauer, dann Fr. v. Raumer und von der Hagen hielt ihn durch Geist und Gemüth gefesselt. Namentlich aber war das gastliche Haus des Verlagsbuchhändlers Max der erwünschte Sammelpunkt dieser Genossen, in welchem M. fast täglich Erholung in ungezwungener geistiger Mittheilung suchte und fand. Unterdessen wünschte Böckh den jungen Freund, der zu Höherem den Beruf in sich trug, nach Berlin zu ziehen: er arbeitete daran, ihn in einen neu zu schaffenden Posten an der Akademie der Wissenschaften, als „Adjunct“, anscheinend zur Unterstützung bei der ihm übertragenen Abfassung des Corpus Inscriptionum Graecarum und zugleich als „Repetenten“ an die Universität zu bringen. Ehe dieser Plan jedoch der Verwirklichung sich näherte, konnte ihm derselbe Böckh am 25. Mai 1819 vertraulich mittheilen, daß Professor A. H. L. Heeren in Göttingen (der Historiker und Schwiegersohn Heyne’s) sich nach M. erkundigt habe, da man in Göttingen beabsichtige, den Verfasser der Aeginetica als Professor in die durch Fr. G. Welcker’s Abgang nach Bonn erledigte Stelle zu berufen. In der uns erhaltenen Antwort schreibt Böckh an Heeren mit der wiederholten Versicherung, daß er „unbestochen lobe“: „Die akademische Lage wird ihn in kurzer Zeit zu einem der bedeutendsten Gelehrten in unserem Fache machen, zumal da er große Vorarbeiten und Sammlungen hat, wie meines Wissens keiner, der mir vorgekommen ist von den Jüngeren.“ Und weiterhin: „Unter allen jungen Männern, die ich kenne, habe ich nie eine so große Bescheidenheit, einen so feinen sittigen Sinn gefunden; er ist ein Muster von einem Gelehrten; sein Aeußeres ist offen und freundlich und angenehm; er ist vollkommen unschuldig, unbefangen, heiter, gesetzt: er ist äußerst verträglich und wird mit Niemand in Streit gerathen. Seine Gesundheit ist blühend; er kann unmäßig arbeiten, ohne daß er seine frische Jugendfarbe verlöre.“ – Hierauf erging an M. die Anfrage, ob er als außerordentlicher Professor der Alterthumswissenschaft mit vorläufig 600 Thalern Gehalt nach Göttingen kommen wolle. Hocherfreut sagte dieser zu, nach Wegräumung kleiner äußerlicher Bedenken. Damit er sich für die von ihm zu übernehmende Kunstarchäologie auch durch Anschauung vorbereite (Böckh hatte schon geschrieben, es werde ihm ein Leichtes sein, sich in diesem Fache bald so festzusetzen, daß er jedem die Spitze bieten könne), gewährte ihm die hannöversche Regierung aus freien Stücken die Mittel zu einem zweimonatlichen Aufenthalte in Dresden. Dahin also brach er, nach Lösung des dienstlichen Verhältnisses in Breslau, wo er soeben auch die erbetene Erlaubniß zur Habilitation als Docent an der Universität erhalten hatte, Ende August auf und lebte mit Böttiger und Schorn, die ihn freundlich unterstützten, wochenlang im Antikensaale. Er ließ aber auch die Gemäldesammlung auf sich wirken und wurde in allen Kunstgebieten um so rascher heimisch, als er Vorübung im Zeichnen besaß. Außerdem verkehrte er hier u. A. mit Ersch, dem Herausgeber der Halle’schen Encyklopädie, und erwarb sich das Wohlwollen Tieck’s, dessen Herzlichkeit und Gefühlswärme er pries. Eine schöne Ausbeute brachte er aus diesem unruhig reichen Aufenthalte [659] weniger Wochen, wo er „wie ein Fisch im Wasser“ sich wohl fühlte. Als directe Frucht der gemachten Studien gab er die an die Dresdener Kandelaberbasis mit der Darstellung des Dreifußraubes anknüpfende Abhandlung „De tripode Delphico“, durch welche er in Göttingen zu seiner am 22. Januar 1820 abzuhaltenden Antrittsrede einlud und im Anschluß daran zwei Aufsätze „Ueber die Tripoden“ in Böttiger’s Zeitschrift Amalthea Bd. I. – Nach der Ankunft in Göttingen im Herbst 1819 begann für den 22jährigen Professor eine arbeitsvolle Zeit; er las in dem Winter griechische Alterthümer, in welche er sich selbst hineinarbeiten mußte, da er nicht Gelegenheit gehabt hatte, Böckh’s Vorlesung darüber zu hören; dazu ein stark besuchtes Publikum über Orakel und Weissagungen bei den Alten. Doch fühlt er sich in Göttingen bald „sehr glücklich“ und wird „immer einheimischer“, obwol er „an Breslaus lebhafte und vertrauliche Zirkel gewohnt“ war. Seine ersten Bekannten unter den Aelteren sind Heeren und Dissen, der letztere sein vortrefflicher, feinsinniger, aber sehr kränklicher Specialcollege, von eben so empfindlicher wie empfänglicher Gemüthsart, mit dem er aber fortdauernd recht gut auskam. Daneben forderte jedoch seine natürliche Lebhaftigkeit und sein jugendlicher Sinn auch eine erregtere, freiere, lebendigere Geselligkeit unter Gleichaltrigen, und diese fand er namentlich in der damals eine kurze Reihe von Jahren bestehenden „Gesellschaft der Ungründlichen“, „wie sie sich scherzend dem gründlich ernsthaften Göttingen und ihrem eigenen gründlichen Ernste gegenüber nannten“. In dieser Vereinigung von zum Theil späterhin bedeutenden Männern, wie Ribbentrop, Kraut, Höck, Bopp, A. Göschen, Julius Müller, der 1820–1822 in Göttingen studirte, welche Uebersetzungen aus fremden Litteraturen zum Mittelpunkte ihrer Verhandlungen machten, war M. „einer der heitersten und fröhlichsten Gesellen, immer aufgelegt und kein Spielverderber“. Nachher (seit 1827) trat an die Stelle dieses Vereins die Latina, ein geselliger Verein zur Lesung lateinischer Classiker, in welcher Müller’s, des als Philologen gebornen Hauptes, liebenswürdige Laune und Heiterkeit in Reden ebenfalls gerühmt wird. – Unter seinen Vorlesungen nahm die fast regelmäßig jeden Sommer wiederkehrende Kunstgeschichte und Archäologie wol den ersten Rang ein, daneben bildeten besonders folgende nach seiner eigenen Absicht einen gewissen Cyclus: griechische Alterthümer, Mythologie und Religionsgeschichte der Völker des Alterthums, römische Litteraturgeschichte, daneben die Interpretation des Herodot, Thukydides, Pindar und Tacitus, die meist einen Zeitraum von drei Jahren ausfüllten. Dazu ließ er als Mitdirector des philologischen Seminars abwechselnd griechische und lateinische Autoren erklären und leitete die Disputirübungen über die lateinisch gefertigten Seminararbeiten. Seine bedeutenden Erfolge in der Lehrwirksamkeit veranlaßten schon 1821 den Minister, ihm die Mittel zu einer längeren archäologischen Reise nach Frankreich und England anzubieten; doch erst im Sommer und Herbst folgenden Jahres führte er diese Studienreise aus, auf welcher er eine Fülle von Anschauungen antiker Kunstdenkmäler einsammeln konnte und die Bekanntschaft von vielen bedeutenden Gelehrten des Auslandes machte. Zurückgekehrt legte er die letzte Hand an die beiden folgenden Bände seiner Geschichten hellenischer Stämme und Städte, in welchen er unter dem Separattitel „Die Dorier“ (erschienen 1824) ein mit eigenthümlicher Vorliebe gezeichnetes Gesammtbild des dorischen Volksstammes nach den vier Hauptgesichtspunkten: äußere Geschichte, Religion und Mythus, Staatsleben, Sitte und Kunst entwarf, nach Böckh’s Urtheil „mit bewundernswürdiger Fülle und herrlicher Lebendigkeit der Auffassung und Darstellung“. Trotz verschiedener heftiger Angriffe, welche das Buch sogar von dem Historiker Fr. Chr. Schlosser erfuhr, der in übellauniger Weise über „die neuentdeckten Dorier“ spöttelte, und trotz einer gewissen aus begeisterter Theilnahme des Verfassers [660] entsprungenen Einseitigkeit ist dasselbe zu einem der Grundpfeiler für die neuere Auffassung der griechischen Geschichte geworden, wenngleich manche Einzelheit und die übertriebene Glorificirung der dorischen Eigenthümlichkeit natürlich wieder aufgegeben werden mußte. Durch jene Recensionen aber wurde M. veranlaßt, sofort ein neues kritisch grundlegendes Werk zu schreiben, worin er seinen Gegnern durch positive und zusammenhängende Aufstellungen antwortete, die „Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie“ (Göttingen 1825), worin er ausgehend von dem Begriff und Wesen des Mythus, dessen Entstehung und Verbreitung durch Völkerwanderungen und Colonien, und ebenso bei der Deutung vorzugsweise die historischen Elemente der Localmythen und Stammessagen, also die heroische Mythologie betont, daneben aber auch ganz entschieden die Ursprünglichkeit und Nothwendigkeit des Symbols im Glauben und Cultus hervorhebt.

Inzwischen hatten sich auch Müller’s äußere Verhältnisse immer günstiger gestaltet. Im Mai 1823 war er zum Ordinarius und zum Mitgliede der Societät der Wissenschaften ernannt worden, und da eine von Böckh betriebene und durch Fr. v. Raumer im December desselben Jahres an ihn gerichtete Aufforderung, für alte Geschichte und Philologie nach Berlin zu kommen, wegen der Verpflichtungen, die er gegen die hannöversche Regierung hatte, von ihm ablehnend beantwortet war, auch mit einer bedeutenden Gehaltszulage bedacht worden. Zu gleicher Zeit erfüllte ihn „eine stille, aber leidenschaftliche Bewerbung um Pauline Hugo“, die Tochter des berühmten Juristen, mit welcher er am 8. September 1824 sich ehelich verband. Das junge Eheglück aber machte ihn nur noch thätiger; außer einer Abhandlung „Ueber die Makedonier“ (Berlin 1825) vollendete er in unglaublich kurzer Zeit „nach der größten Anstrengung von Körper und Geist“ (schreibt er selbst) ein zweibändiges Werk über die Etrusker in Folge einer Preisaufgabe der Berliner Akademie, welche dasselbe am 3. Juli 1826 mit dem Preise krönte. Auch diese kritisch höchst schwierige und mühevolle Arbeit, welche in Breslau 1828 im Druck erschien, ist mit so erschöpfender Benutzung aller vorhandenen Hülfsmitttel und mit so eindringendem Scharfsinn abgefaßt worden, daß sie bleibende Bedeutung noch heute besitzt und auch die neue Ausgabe derselben durch W. Deecke (Stuttgart 1877) trotz zahlreicher und mannigfacher Zusätze und Modificationen im Einzelnen den Kern des Ganzen unberührt gelassen hat. Außerdem aber betrieb er nebenher immer noch so umfangreiche Arbeiten, wie die Artikel: Attika und Boiotien in Ersch und Gruber’s Allgemeiner Encyklopädie, ganz abgesehen von Recensionen und kleineren Anzeigen fremder Schriften. Ferner führte ihn der nach und nach erweiterte Kreis seiner Vorlesungen zu neuen wissenschaftlichen Unternehmungen. Zwar die auf Heeren’s Rath unternommene neuere Kunstgeschichte trug er nur einmal vor (Sommer 1824), worauf man ihn zum Aufseher aller Gipsabgüsse und Kupferwerke auf der Bibliothek bestellte. Dagegen trat er mit einem lange und in emsigstem Fleiße vorbereiteten Werke hervor, welches bis heute die einzige Gesammtdarstellung der archäologischen Disciplinen enthält. Das „Handbuch der Archäologie der Kunst“ erschien zuerst 1830, dann 1835, in dritter Auflage nach dem Handexemplar des Verfassers vermehrt, mit Zusätzen von Welcker 1848 und im unveränderten Abdruck Stuttgart 1878. Darin machte M. den wohlgelungenen Versuch, „die Summe aus der bisherigen Bearbeitung der Wissenschaft zu ziehen“; er lieferte nicht nur in concisester Form ein immenses Material (außer der theoretischen und litterarischen Einleitung 1. Geschichte der Kunst im Alterthum, 2. nach der geographischen Uebersicht der alten Kunstdenkmäler systematische Betrachtung über die Technik, die Formen und die Gegenstände der alten Kunst), sondern wußte auch namentlich im zweiten Theile durch scharfe, lebendige und anschauliche Charakteristik seinem dauerhaften Gebäude eine Form [661] von bleibendem Werthe zu schaffen, so daß von demselben noch nach des Verfassers Tode außer dem wiederholten Abdruck Uebersetzungen ins Englische und Französische angefertigt wurden. Die eindringenden Einzelforschungen, welche der Abfassung des Buches vorausgingen, bekunden sich in einer ganzen Reihe von Abhandlungen und gehaltvollen Recensionen, unter denen als wichtigste zu nennen sind: „Minervae Poliadis sacra et aedem in arce Athenarum illustravit C. O. M.“, Gottingae 1820; „De Phidiae vita et operibus commentationes tres“ (Göttingen 1827); „Ueber die erhabenen Bildwerke in den Metopen und am Friese des Parthenon (zu der deutschen Bearbeitung von Stuart und Revett’s Alterthümern von Athen Bd. II S. 658 ff., wiederholt in den Kleinen Deutschen Schriften Bd. II S. 547 ff.); die Recension von Fr. Thiersch’s Buch über die Epochen der bildenden Kunst unter den Griechen (ebend. Bd. II S. 315–398), dessen einen Grundgedanken von der Herleitung einer hieratisch-griechischen Kunst aus Egypten M. entschieden bekämpft, während er gegen den anderen von dem 500jährigen gleichmäßigen Bestande der antiken Kunst wenigstens gewichtige Bedenken erhebt. Die Brauchbarkeit des Handbuchs aber wurde noch wesentlich erhöht durch die Veröffentlichung von Abbildungen der zur Veranschaulichung sowol des kunsthistorischen als des kunstmythologischen Theiles wichtigsten Bildwerke mit kurzem erläuternden Texte, welche im J. 1832 als „Denkmäler der alten Kunst nach der Auswahl und Anordnung von C. O. M., gezeichnet und radirt von C. Oesterley[WS 1]“, in Heften begonnen wurde (fortgesetzt nach Müller’s Tode von Bd. II, Heft 3 an durch seinen Schüler Fr. Wieseler). Neben zahlreichen Beurtheilungen gab er eine Uebersicht der Litteratur der Kunstgeschichte und Archäologie von 1829–1835 (abgedruckt in Kleinen Deutschen Schriften, Bd. II); selbstfördernd trat er ein außer in Proömien und sonstigen kleineren Aufsätzen durch die Commentationes in den Schriften der königlichen Societät der Wissenschaften, „De munimentis Athenarum“ (1836) und in einer umfassenden Arbeit über die Topographie der Stadt Antiochia am Orontes, deren Gründungs- und Baugeschichte er bis in das Mittelalter verfolgte, um, wie er sagt, die große Lücke theilweise auszufüllen, welche in der antiken Kunstgeschichte, nach den bisherigen Bearbeitungen, in der Zeit der makedonischen Dynastien einzutreten pflegt („Antiquitates Antiochenae“, Comment. I. 1834, II. 1839). Auf mythologischem Gebiete zeigt sich eine Weiterbildung und Vertiefung seiner Ansichten besonders in den Artikeln „Pallas Athene“ und „Eleusinien“, die er für die Halle’sche Encyklopädie verfaßte (abgedruckt in Kleinen Deutschen Schriften, Bd. II; vgl. Jul. Cäsar: Ein Beitrag zur Charakteristik Otfried Müller’s als Mytholog. Marburg 1859). – Wieder ein neues Gebiet betrat er in Anlaß einer Vorlesung über Aeschylos Eumeniden mit vorangeschickter Einleitung über die tragische Kunst der Griechen (1828), woraus das Buch erwuchs: „Aeschylos Eumeniden griechisch und deutsch mit erläuternden Abhandlungen über die äußere Darstellung und über den Inhalt und die Composition dieser Tragödie“ (Göttingen 1833). Außer einer klaren, kräftigen und geschmackvollen Uebertragung, welche die Hauptsache sein sollte und den Verfasser sogar zur Abfassung einer das Thema der Blutrache behandelnden (ungedruckt gebliebenen) Tragödie anregte (Manoah-Kain betitelt), werden hier die scenischen Alterthümer auf Grund umfassender archäologischer Studien abgehandelt; dann aber die Blutrache und ihre Sühnung im Apolloncultus zum Gegenstande eingehendster Untersuchung gemacht, wobei die religiösen Ideen und Rechtsgebräuche, namentlich auch die Geschichte und Stellung des athenischen Areopags in ganz neue Beleuchtung treten. Leider gab eine übereilte Aeußerung in der Vorrede des Buches, welche er um seines Amtsgenossen Dissen willen gegen Gottfried Hermann richtete (er sprach von „tieferen Fragen, als Notengelehrsamkeit beantworten kann“), dem Letzteren Veranlassung [662] zu einer ebenso heftigen wie umfangreichen Kritik (zuerst in den Wiener Jahrbüchern Bd. 64. dann wiederholt als Opusc. vol. VI pars II), gegen welche M. in einem besonderen „Anhang zu dem Buche etc.“ (Göttingen 1834) auftrat, worauf Hermann wiederum in zwei Aufsätzen entgegnete (Opusc. vol. VII, S. 1–65). Der unzeitige Eifer des jungen F. W. Fritzsche, der seinem Lehrer Hermann in einer besonderen, derb und ungeschickt abgefaßten Schrift beizuspringen sich berufen fühlte, trug nicht wenig zur Schürung in dem unerquicklichen Streite der beiden Häupter bei, dessen versöhnender Abschluß erst nach Müller’s Tode durch die anerkennenden von Hermann über ihn auf der Gothaer Philologenversammlung (Verhandlungen S. 60) gesprochenen Worte erfolgte. – Durch die Brüder Grimm neu angeregt, hatte M. sich auf vergleichende Sprachstudien geworfen (er hielt 1828 eine Vorlesung über comparative Grammatik des Griechischen und Lateinischen); die Frucht derselben trat zunächst in einer neuen kritischen Ausgabe der durch seine etruskischen Forschungen ihm nahe gebrachten Bücher des „Terentius Varro de lingua Latina“ (Lipsiae 1838) hervor. Ermuthigt durch Ed. Böcking’s Zuspruch schritt er dann fort zur Bearbeitung des Grammatikers Festus, den er mit werthvollem Commentar bereicherte: „Sexti Pompei Festi de verborum significatione quae supersunt cum Pauli epitome emendata et annotata“, Lips. 1839. – Ein sehr kostbares Vermächtniß endlich hinterließ M. nicht blos den philologischen Kreisen, sondern man darf sagen der ganzen humanistisch gebildeten Welt in seiner „Geschichte der griechischen Literatur bis auf das Zeitalter Alexanders“, welche er zunächst auf eine an ihn von der Gesellschaft zur Verbreitung nützlicher Kenntnisse in London ergangene Aufforderung seit 1836 bearbeitete und bei Antritt seiner griechischen Reise unvollendet zurückließ. Der erste Theil erschien in englischer Sprache in London 1840; gleich darauf aber gab des Verfassers Bruder Eduard das Ganze, soweit es vorlag, deutsch in 2 Bänden heraus (2. Ausgabe Breslau 1857; 3. Ausgabe mit Anmerkungen und Zusätzen von E. Heitz[WS 2], Stuttgart 1875–1876; 4. Ausgabe 1882–1883). Das Werk ist ein Torso; denn nur die Geschichte der griechischen Poesie ist bis auf die Zeit Alexanders herabgeführt, während von der philosophischen Litteratur nur die Anfänge bis auf Anaxagoras und Empedokles, von den Historikern nur Herodotos und Thukydides behandelt, die Geschichte der Beredsamkeit nur bis zur Ausbildung der Redekunst durch Isokrates verfolgt ist; es trägt auch keinen streng gelehrten Charakter; – der Verfasser hat, wie er selbst in der Einleitung bemerkt, besonders auf jugendliche Leser gerechnet; – aber es gehört dennoch zu den reifsten und in formaler Hinsicht abgerundetsten Arbeiten Müller’s, der darin die Aufgabe, die er laut der Einleitung sich gestellt: „zu zeigen, wie jene ausgezeichneten Werke menschlicher Rede, welche wir mit Recht noch immer die classischen Schriften der Griechen nennen, auf eine naturgemäße Weise aus der Sinnesart der griechischen Völkerschaften und aus dem Zustande ihres geselligen und bürgerlichen Lebens hervorgingen und wie sich in ihnen der Geist und Geschmack und das ganze innere Leben jener von der Natur vor allen anderen reichbegabten Nation ausprägt“ – in mustergiltiger Weise gelöst hat. –

Die äußere Lage Müller’s hatte sich, entsprechend seinen großartigen Erfolgen als akademischer Lehrer und als Schriftsteller, immer mehr gehoben. Mehrmals wurden ihm Gehaltsverbesserungen zu theil; 1832 erhielt er den Hofrathstitel, 1834 den Guelphenorden. Vom Auslande wurde er von Berlin, München, Leipzig, von Paris und London, den Niederlanden her zum Mitgliede gelehrter Gesellschaften ernannt; am archäologischen Institut in Rom war er Directionsmitglied. In der zum Theil nach seinen Vorschlägen 1830 eingerichteten wissenschaftlichen Prüfungscommission wurde er (neben Mitscherlich) zweiter [663] Commissar, 1831 Dirigent, gleichzeitig auch Mitglied des akademischen Senates. Nach Mitscherlich’s Rücktritt 1835 erhielt er die Professur der Eloquenz gemeinsam mit Dissen, doch so, daß das öffentliche Reden bei des Letzteren Kränklichkeit ihm allein zufiel. – Alljährlich machte er in den Herbstferien Reisen, in den zwanziger Jahren oft nach Schlesien zu seinen Eltern und nach Berlin zu seinem Freunde Böckh, der auch wieder mehrmals nach Göttingen kam; später auch an den Rhein, nach München, nach Hamburg und Kopenhagen. Im J. 1835 erbaute er sich in Göttingen, da er an einen Ortswechsel nicht mehr dachte, ein eigenes neues Haus in geschmackvollem Stile, wobei er mit praktischem Blicke bei der Beaufsichtigung des Baues seine eignen Ideen zur Geltung brachte. (Das Haus wurde nach seinem Tode von einer Gesellschaft angekauft und dient seitdem als „Literarisches Museum“ mit Lese- und Gesellschaftszimmern für Professoren und Studirende.) Zu derselben Zeit wurde die neue Aula der Universität inmitten der Stadt gebaut, zu deren Erstehung und zweckmäßiger Einrichtung er ebenfalls mitwirkte. – Bei dem darauf folgenden Jubiläum der Universität vom 17.–19. September 1837 fiel ihm als Professor der Beredsamkeit eine Hauptrolle zu: er schrieb das Programm und hielt die Festrede über die Geschichte der Universität; die Juristenfacultät ernannte ihn zum Doctor der Rechte. Schon vorher, am 28. August, seinem 40. Geburtstage, hatten ihm die Studirenden einen glänzenden Fackelzug gebracht; war er doch neben Gottfried Hermann wol der letzte Philologe, dessen Vorlesungen fast regelmäßig von zahlreichen Studenten aller Facultäten freiwillig und gern gehört wurden! Der in jenen Tagen von Thiersch angeregten Idee einer jährlichen Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner widmete er eifrigste Mitwirkung. Doch es folgte das große Leid dem Jubel auf dem Fuße. Seine treuen Freunde Dissen und Göschen starben fast gleichzeitig. Tiefer noch erregte ihn der hannöversche Verfassungsconflict, welcher schon bei Begehung des Universitätsfestes als schwere Wolke am Himmel drohte. Am 18. November erfolgte nach Aufhebung der Verfassung der bekannte Protest der sieben Professoren. „M. hatte sich nicht angeschlossen, weil er sich zu der Ansicht bekannte, daß jetzt ein solcher Schritt nicht gerechtfertigt sei, daß man vielmehr den Zeitpunkt abzuwarten habe, wo die Universität als Wahlcorporation sich aussprechen müsse, wo man dann mit mehr Erfolg für die gute Sache wirken könne, als wenn Einzelne hervorträten und sich in die politischen Händel des Landes mischten.“ Diese Angabe Ferd. Ranke’s (damals Gymnasialdirector in Göttingen) findet ihre Bestätigung in Müller’s Briefwechsel mit Böckh S. 400 ff., wo M. vertraulich dem Freunde schreibt: „Ich war mit der letzteren (der Protestation) in Gesinnungen und Ansichten ganz einverstanden, da ich namentlich auch überzeugt bin, daß ein ehrlicher Mann das Grundgesetz, auf das wir verpflichtet sind, nicht auf die einseitige Aufhebung des Königs aufgeben dürfe und entschlossen bin, den Huldigungsrevers nicht ohne Verwahrung zu unterschreiben, und gegen jede Wahl eines Deputirten, als für die rechtmäßige Ständeversammlung, zu protestiren.“ Als die Absetzung der Sieben erfolgt war, gab ihnen auch M. das Ehrengeleite; und als die Mehrheit der Universität sich zu einer huldigenden Deputation an den König herbeiließ, erklärte er sofort mit fünf Collegen öffentlich in Zeitungen seine wesentliche Uebereinstimmung mit der Gesinnung und den Ansichten der Sieben, und machte sich auf Amtsentsetzung gefaßt. Allein es geschah ihm und den Anderen nichts; dagegen empfand er die Schädigung der Universität aufs schwerste, auch schrieb er ein Programm „De exilio“, worin freilich nur der Titel eine directe Anspielung auf die Zeitverhältnisse enthielt. Daß Böckh Alles zu thun verspricht, um ihn aus der unbehaglichen Lage nach Berlin zu ziehen, läßt er sich gefallen als Rückhalt für den äußersten Fall; doch sucht er nach Möglichkeit Ehre und Bestand der Georgia [664] Augusta zu retten; einen Ruf an die Petersburger Akademie lehnt er ab; er hofft auf nahen Umschwung der Verhältnisse. –

Schon seit Jahren hatte M. den Plan einer Reise in die classischen Länder mit sich herumgetragen, um durch persönliche Anschauung bereichert, dann das Hauptwerk seines Lebens, eine Geschichte Griechenlands, zu schreiben, wozu er seine früheren Schriften als Vorstudien betrachtete. „Nach seiner mündlichen Aeußerung dachte er an ein Werk von zwölf Bänden, von denen die Hälfte Anmerkungen, Begründungen und einzelne historische und geographische Abhandlungen enthalten sollte.“ Die unerquicklichen Verhältnisse der Universität gaben einen letzten Impuls zu der Reise. Den dazu erbetenen Urlaub gewährte ihm die Regierung; sie gab ihm auch auf ihre Kosten den Zeichner Neise mit. Ende August 1839 war Alles vorbereitet; Müller’s Schreibtisch war „spiegelblank“; für den Fall seines Todes hatte er sein Testament gemacht. Er ging nach München und trat mit seinen Reisegefährten Adolf Schöll und Theodor Pressel (einem jungen Schwaben) die auf 14 Monate berechnete Reise an. Ueber Verona und Mantua ging er nach Florenz und verweilte dann fast drei Monate in Rom. „Es folgte Neapel, Herculaneum, Pompeji, Pästum. Groß war die Ausbeute in Sicilien unter den Ruinen von Syrakus, Segesta, Selinunt, Agrigent; in Catania verlebte M. mit Sartorius v. Waltershausen zehn glückliche Tage. Sonntag am 6. April kamen Alle gesund, frisch, kräftig in Athen an und fanden mit der Hauptstadt Griechenlands in ganz Italien und Sicilien nichts vergleichbar. M. sah alle seine Erwartungen weit übertroffen und war ganz in seinem Elemente, beutete jede Stunde aus, lebte still und in rastloser Arbeit.“ Nach fünf Wochen machte er mit Ernst Curtius eine vierzigtägige Reise durch den Peloponnes. Ein zweiter Aufenthalt in Athen (17.–30. Juni) brachte ihm Ehren vom Könige und der Königin. Bei schon beschwerlich fallender Hitze trat er darauf in derselben Begleitung die Reise nach Nordgriechenlaud an. Man ging über Marathon, Rhamnus, Oropos durch Böotien, über Elateia zu den Thermopylen und durch die Landschaft Doris nach Amphissa und Delphi. Hier gedachte M. acht Tage zu verweilen und ließ an der Tempelterrasse graben, wobei man über 60 Inschriftsteine entdeckte. Bei der Arbeit des Copirens in unbequemer Stellung und bei glühender Sonnenhitze versagten M. die Kräfte; er ruhte einen Tag, aber bei einem erneuerten Versuche bekam er Schwindel und mußte abstehen. Schon sehr geschwächt besuchte er auf der Rückreise in Lebadeia das Orakel des Zeus Trophonios; aber die Ermattung nahm zu und er schleppte sich am 27. und 28. Juli mit Mühe zu Pferde nach Theben. Von da brachte man den Betäubten mit Hülfe des aus Athen herbeigeholten königlichen Leibarztes Dr. Röser während der Nachtkühle in einem königlichen Wagen nach der Hauptstadt zurück. Hier verhauchte er am 1. August 1840 Nachmittags 4 Uhr sein Leben. Die Krankheit ward als ein nervöses Gallenfieber erkannt, herbeigeführt durch Ueberanstrengung und Sonnenbrand; die Section zeigte das Gehirn in gänzlicher Zerrüttung. Die Universität Athen bereitete dem Todten ein feierliches Begräbniß, an welchem König Otto, seine Minister und das diplomatische Corps theilnahmen und wobei der Professor Philippos Joannu eine Grabrede in griechischer Sprache hielt. Er wurde bestattet im lebendigen Fels des Kolonos, oberhalb der alten Akademie, nordwestlich vor der Stadt; über dem Sarkophage ließ die Universität eine weißmarmorne Stele altgriechischer Form setzen, welche auf dem grünen Hügel weithin leuchtet, sie trägt die Inschrift einer Elegie von Philippos Joannu in altgriechischer Sprache. – Bald nach der Katastrophe war Müller’s Frau mit den Kindern ahnungslos dem Gatten entgegengereist und erst am 27. August mußte der Schwiegervater Hugo die Todesnachricht in der Allgemeinen Zeitung lesen. Der jähe Schrecken und die Trauer in ganz Göttingen [665] wird unbeschreiblich genannt. In zahlreichen Tagesblättern und eigenen gelehrten Schriften ward die Klage um den Frühverblichenen laut. – Müller’s Persönlichkeit hatte etwas Außerordentliches. Schon sein Aeußeres verrieth in edlen Zügen den Charakter und den Geist. Ternite malte 1838 sein Bild und fertigte selbst auch eine Lithographie darnach an. Böckh sagt über dies Porträt, der Ausdruck sei wahr, die Aehnlichkeit überraschend; vielleicht sehe er etwas zu sanft aus; jeder aber müsse davon den Eindruck einer edlen und sinnigen Milde gewinnen. Lücke hebt die edle, schlanke Gestalt mit behendem, fast geflügeltem Gange hervor, die feinen und anmuthig freundlichen Manieren, das zuvorkommende und gefällige Wesen ohne alles Andringen, den offenen und freien Blick, das Auge voll Feuer und Unruhe, mehr lichtvoll als brennend, die wohltönende markige Stimme, voll Umfang und Modulation, die lebendige, leichte, ausdrucksvolle Sprache mit geringem Anfluge des schlesischen Dialects. Man mußte den genialen Mann in ihm erkennen. Er besaß ein glückliches treues Gedächtniß; aber was er darin sammelte, wurde auch alsbald sein geistiges Eigenthum und bekam im Zusammenhange seines lebendigen Wissens den rechten Platz. Man fand bei ihm keine Spur von ungeordnetem Wissen und unklarer Rede. Dabei verschmähte er die Hülfe des gelehrten Gedächtnisses nicht. Während Böckh „so gut wie gar keine Collectaneen hat, sondern aus dem Gedächtniß und Stegreif zu schreiben pflegt“, besaß M. für seine weitschichtigen Sammlungen einen besonders eingerichteten Fächerschreibtisch, wobei ihm seine große Ordnungsliebe sehr zu statten kam. Sein Arbeitsfleiß war in Göttingen sprichwörtlich; sein Körper, an dem die Alten die siccitas gelobt haben würden, vertrug viel; auf Spaziergängen wurde er weder von Kälte noch Hitze gestört, selten ermüdet. Er stand nicht früh auf, aber nach heiterer Geselligkeit vermochte er es, bis tief in die Nacht hinein zu studiren. Kränklichkeit kannte er nicht; auch bei ernsten Anfällen hielt es schwer, ihn zur Arznei zu bringen und war in Folge seiner Tapferkeit, ehe man sich’s versah, immer wieder wohlauf. – Zur Philologie war er wie geboren, er umfaßte die verschiedensten Zweige ihrer Aufgaben mit einer gewissen Harmonie; doch zog ihn die historische Seite am mächtigsten an. Ueber seine idealische Betrachtung der Gesammtaufgabe dieser Wissenschaft äußert er sich gelegentlich Göttinger gelehrte Anzeigen 1836, S. 1681 ff. (abgedruckt Kleine Schriften Bd. I S. 8), worin folgende Sätze bemerkenswerth sind: „Die Philologie geht darauf hinaus, die Periode der Bildung des Menschengeschlechts, mit der sie sich beschäftigt, ebenso in ihrem gesetzmäßigen Entwicklungsgange wie in ihren individuellen Gestaltungen in anschaulicher Vorstellung aufzufassen, wissenschaftlich zu erkennen und überhaupt dem Geiste auf solche Weise anzueignen, daß er in allen seinen Kräften dadurch gestärkt, gereift und über die Beschränktheit eines persönlich-zufälligen Horizontes zu einer höheren Einsicht in das menschlich Edle, Große und Schöne erhoben werde. Sie setzt sich aber nicht die Ermittelung einzelner Facta, die sie in ihre Tabellen eintragen will, noch auch die Gewinnung abstracter Formen, die es ihr etwa von den Erscheinungen abzuziehen gelingt, sondern die ganze volle Auffassung des antiken Geisteslebens in Verstand, Gefühl und Phantasie zum Ziele.“ Und dann führt er aus, wie sich die Lectüre der Schriftsteller, das Studium der Sprachen in ihrem etymologischen Bau und in ihrer syntaktischen Ausbildung, ferner die Religion und Mythologie der classischen Völker, das Staatsleben, die Litteratur und die bildende Kunst, namentlich aber Länderkunde und Völkergeschichte als nothwendige und natürliche Bestandtheile bei solcher Auffassung ergeben, und schließt darauf so: „Indem, wie es uns scheint, die classische Philologie dem Ziele einer solchen Ergründung seit einiger Zeit mit entschiedenem Bewußtsein zustrebt, bereitet sie einerseits eine nähere Verbindung mit der Philosophie vor, indem sie sich bemüht, ihr die Mittel [666] zu verschaffen in das Innere des menschlichen Geistes, den ganzen Organismus seines Lebens, seine Entwicklungsstufen und deren Gesetze, die Natur und das Wesen aller höheren geistigen Thätigkeiten ungleich tiefer einzudringen als es die beschränkte und einseitige Lebenserfahrung eines Individuums oder ein willkürliches Herausgreifen einzelner Erscheinungen aus der Geschichte möglich macht. Andererseits wird sie auch dadurch in den Stand gesetzt, die Rolle in der pädagogischen Bildung der Jugend, die ihr, ungeachtet der sich immer erneuernden Kämpfe darüber, bis jetzt noch geblieben ist, mit gutem Gewissen und im klaren Bewußtsein ihres Rechtes zu behaupten. Denn wenn ihr selbst der geistige Charakter und die Gedankensphäre des Alterthums vollkommen deutlich geworden sind, wird sie dieselbe auch am besten für die Entwickelung des jugendlichen Geistes benutzen und durch die einfachen und klaren Formen der antiken Bildung den Geist für die verschlungenen und complicirten Wege, welche die neue Zeit eingeschlagen hat, vorbereiten können.“ – Bei solcher Begabung und Anschauung versteht es sich von selbst, daß M. ein ausgezeichneter Lehrer und Führer der Jugend auf seinem Gebiete war. Er liebte sein Lehramt im höchsten Grade und war einer der eifrigsten, ausdauerndsten Docenten. Seine Zuhörer rühmten von Anfang an die Klarheit und Bündigkeit sowie die anregende und zugleich inhaltsvolle Lebendigkeit seiner Darstellung. „Einer der ältesten (jetzt lebenden) Schüler K. O. Müller’s, der im Sommer 1833 dessen Vorlesung über Archäologie der Kunst hörte, welche vor einem Hörerkreis aus verschiedenen Facultäten gehalten wurde, erinnert sich noch jetzt mit besonderem Vergnügen des Eindruckes, welchen ihm der klare, übersichtliche, von allem unnöthigen Schmuck freie Vortrag machte. Die übrigen Vorlesungen wurden mehr nach einem Hefte gehalten, nicht aber so, daß man den Eindruck des Dictirens empfunden hätte. Alle zeichneten sich durch Klarheit, Uebersichtlichkeit und Fülle des Stoffes aus. Geringeren Beifall als die anderen hatten seine exegetischen Vorlesungen. Auch in der Leitung des philologischen Seminars leistete er nicht so viel als man von seinen eminenten Fähigkeiten und seiner großen Gelehrsamkeit hätte erwarten sollen, indem er es nicht verstand genauer in das Detail einzugehen und die Schüler zum Selbstfinden gehörig anzuleiten.“

An dem Jubiläum der Universität war M. der beste und gefeiertste Redner, auch hörte man ihn im geselligen Kreise gern vorlesen. Dabei übte er aber noch mehr durch persönliches Beispiel eine stille und mächtige Gewalt über seine Schüler aus. Ohne alle widerchristliche und widerdeutsche Affectation zeigte sein Wesen eine gewisse classische Färbung, er maß alles gern nach dem classischen Maßstabe der Griechen, und von ihrem heitern Sinn, ihrer edlen Einfalt und Anmuth war ein Theil auf ihn übergegangen. Besonders hatte ihn in seinen Studien die dorische Stammesart, die würdevoll erhaltende, positive Macht im hellenischen Leben, von jeher angezogen; sie wurde für ihn der Typus seiner politischen Denkweise auch für die neuere Zeit. Um Tagespolitik bekümmerte er sich sonst wenig, er las oft 14 Tage und länger keine Zeitung. Wie er sich in der schweren Collision des Jahres 1837 verhielt, ist oben angegeben; er achtete aber durchaus Jeden, der nach innerster Ueberzeugung anders dachte. Die Liebe zu seiner Georgia Augusta, mit welcher er fast 20 Jahre innerlich verwachsen war, pflegte er eifrigst durch Mahnung und eigenes Beispiel; für diese „Mutter seines Glückes und Ruhmes“ hegte er schwärmerische Zuneigung und bethätigte diese auch in Aeußerlichkeiten, z. B. bei dem von ihm besonders betriebenen neuen Universitätsbau, wo er viel praktisches Geschick bewies. – Sein Familienleben war glücklich; er hinterließ zwei Töchter und zwei Söhne im Alter von 3–14 Jahren. Höchst liebenswürdig war sein Verhältniß zu Collegen und Freunden. Er hatte von Natur ein kräftiges Selbstgefühl; er wußte, was er war und was er bedeutete: [667] aber es lag ein edles Maß in seinem Geiste, welches allen Hochmuth fern hielt. In Bescheidenheit schloß er sich bei seiner Ankunft in Göttingen an Dissen und gewann zu dem kränklichen und empfindlichen Manne ebenso wie zu allen Veteranen des Faches alsbald freundliche und dauernde Verhältnisse. Als er mit der Zeit zu einem geistigen Centrum der Universität herangewachsen war, bildete sein elegant eingerichtetes Haus auch einen geselligen Mittelpunkt. In nächster Beziehung zu ihm standen später außer dem Schwiegervater Hugo und Heeren der Theolog Fr. Lücke, die Juristen Göschen, Ribbentrop, die Brüder Grimm, Dahlmann, Hausmann, Sartorius, zuletzt auch die zu seinen Collegen avancirten Schüler Schneidewin, v. Leutsch[WS 3], Wieseler, welche er mit Wärme förderte. Er wurde nach seinem Tode von Allen als ein treuer, hülfreicher, in Leid und Freud theilnehmender Freund gepriesen, und der durch 23 Jahre geführte Briefwechsel mit seinem Lehrer Böckh ist ein beredtes Zeugniß dafür. Den religiösen Dingen stand der tiefe Forscher im Gebiete des Völkerglaubens nicht fern, doch scheint er dem Dogmatismus abgeneigt gewesen zu sein und gehörte sicher nicht einer strenggläubigen Richtung an, die überhaupt im damaligen Göttingen keinen Platz fand. In den Fragen über Freiheit und Selbstbestimmung huldigte er, wie sein Bruder erzählt, „einer Art von Determinismus, wonach er das geistige Sein des Menschen der Idee eines aus eignen inneren Lebenstrieben mit einer gewissen Nothwendigkeit sich entwickelnden Organismus unterordnete.“

Biographische Erinnerungen an K. O. Müller von E. Müller, in K. O. Müller’s Kleine Deutsche Schriften, 2 Bde. (Breslau 1847/48), Bd. I S. VII bis LXXVIII; C. O. Müller, ein Lebensbild, entworfen von Ferdinand Ranke (Berlin 1870, aus dem Jahresbericht der königlichen Realschule). Dr. Fr. Lücke, Erinnerungen an Karl Ottfr. Müller, Göttingen 1841. Briefwechsel zwischen August Böckh und Karl Otfried Müller, Leipzig 1883. Bursian, Geschichte der classischen Philologie in Deutschland. Bd. II, S. 1007–1028. Einige Notizen über die Breslauer Zeit gibt M. Hertz im Breslauer Lectionskatalog auf den Sommer 1884.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Carl Wilhelm Friedrich Oesterley (1805–1891); deutscher Maler, Illustrator
  2. Johann Heinrich Emil Heitz (1825–1890); Klassischer Philologe, Kanoniker der Thomaskirche, Professor und Rektor an der Kaiser-Wilhelm-Universität in Straßburg
  3. Ernst Ludwig von Leutsch (1808–1887); deutscher klassischer Philologe, der als Dozent und Professor in Göttingen wirkte