ADB:Miller, Johann Martin (Dichter)

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Artikel „Miller, Johann Martin“ von Erich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 21 (1885), S. 750–755, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Miller,_Johann_Martin_(Dichter)&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 13:40 Uhr UTC)
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Band 21 (1885), S. 750–755 (Quelle).
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Miller: Johann Martin M., Dichter, geboren in Ulm am 3. December 1750, war der Sohn von Johann Michael M.[WS 1], der 1753 Pfarrer in dem Dorfe Leipheim nächst Günzburg wurde und seit 1763 wieder als Münsterprediger und Professor des Hebräischen in Ulm wirkte. M. hat schon als Knabe mit Liedern, Schauspielen, Tragödien der Poesie schnellfertig gehuldigt. Er wurde am 15. October 1770 (Auskunft Edw. Schröders) als stud. theol. in Göttingen immatriculirt (ex academia Tubingensi, doch führt ihn nach Professor Strauchs Mittheilung die Tübinger Matrikel nicht auf), wo er erst allein, dann mit seinem Ulmer Vetter, dem Juristen Gottlob Dietrich[WS 2] (immatriculirt 15. October 1771), beim Professor der Theologie J. P. Miller, ihrem Oheim, Tisch und Wohnung fand. Ernste Studien scheint er nicht betrieben zu haben. Er war im Grunde stets nur ein schwächlicher Empfindungskrämer und, nachdem die erste Jugendfrische abgeblüht, ein flacher Philister. Der hübsche Jüngling (ein Bild in Lavater’s Physiognomik III, 215), dem schönen Klinger ähnlich, setzte die Ulmer Liebeleien fort, liebte aber Fräulein Stock, Pütters Nichte, nur aus der Ferne. Sein leichtes süddeutsches Naturell, das gemüthliche Schwäbeln, ein gefälliges lyrisches Talent machten ihn zum beliebten Gesellschafter, zum Freunde Bürger’s, der die Bekanntschaft mit Boie vermittelte. So gehörte M. zu dem von Boie vereinigten und geleiteten „Völkchen“ oder „Parnaß in nuce“ und am 12. September 1772 zu den Stiftern des eigentlichen „Bundes“. Alle großen Tage des „Hains“ hat er mitgefeiert. Man versammelte sich meist bei ihm. Der Vetter lieferte als „Bardenhold“ neun gezwungene Gedichte in das Bundesbuch, während „Minnehold“ 1772 und 1773 ungemein productiv war und nicht nur von [751] F. L. Stolberg „unter allen Deutschen gewiß der beste Liederdichter“ genannt wurde. Am vertrautesten war er mit J. F. Hahn („Teuthard an Minnehold“), seinem Lehrer im Englischen und Italienischen Hölty („An Miller“) und Voß, der sich später vergebens um die Festigung des treuen Bundesbruders bemühte. Ende September 1774 begleitete er Klopstock bis Kassel, wie 1773 Schönborn. Im October ging er widerwillig auf Wunsch des Rectors M. – sein Vater war am 14. März 1774 gestorben – nach Leipzig; die Fahrt ist in den ungedruckten Briefen an Voß ergötzlich beschrieben und hat Stoff für spätere Romanepisoden geliefert. In Leipzig, wo er mit dem „Genie“ Cramer wohnte, war es ihm mehr um das Theater, um Buchhändler- und Journalverbindungen zu thun, als um die Wissenschaft, und das Ziel des Aufenthaltes, die Magisterwürde, ließ er bald außer Acht. Ende März 1775 traf er wieder in Göttingen ein und reiste am 4. April als Trabant des von Karlsruhe zurückkehrenden Patriarchen nach Hamburg, blieb dort mehrere Wochen in den besten Kreisen, wurde Freimaurer, warb vergebens um eine Klopstock’sche Verwandte, Fräulein Schmidt, trotz anderweitiger Verpflichtung, hauste einige Zeit mit Voß in Wandsbeck und verkehrte viel mit Claudius, besuchte im Juni zu Braunschweig die alten Bremer Beiträger, schloß Ende des Monats in Göttingen ab, weilte mehrere Tage in Münden bei dem Conrector v. Einem, dessen Tochter Lotte, das vielbecourte „kleine Entzücken“, ihn schon länger anzog, schied wie ein Verlobter, that eine Geniereise in die Lahn- und Maingegend, kneipte mit dem „Halbgott“ Klinger in Gießen und Wetzlar (vgl. auch den tollen gemeinsamen Brief in den „Grenzboten“ 1870 IV, 421 ff., 454 ff., 498 ff.), befreundete sich mit dem Musikus Kayser, mit H. L. Wagner u. A., sprach Merck in Darmstadt und traf endlich im August in Ulm ein; die Hoffnung, als Hauslehrer in Kopenhagen den Stolberg nahe bleiben zu können, hatte sich zerschlagen. Im Herbst eilte er zu ihnen nach Zürich, schloß eine dauernde Freundschaft mit Lavater und reiste in Gesellschaft der alten Genossen und Haugwitzens nach Ulm zurück. Seine Candidatenprüfung hatte er dort bestanden. Als Vicar und Gymnasiallehrer sich trotz prahlerischer Briefe (an Boie 23. August 1775) schwer eingewöhnend, schloß er sich eng an Schubart an, der den „himmlischen Jüngling“ unbändig preist (Holtei, Dreihundert Briefe III, 123 f.). Nach Schubart’s Gefangennahme führte M. 1777 uneigennützig die Redaction der „Deutschen Chronik“ und blieb der Familie ein treuer Helfer. Das Verhältniß zur Einem brach er sehr leichtsinnig ab und verlobte sich nach mehreren Schwankungen mit Anna Magdalena Spranger, der hübschen, schlichten Tochter eines verstorbenen Gastwirthes. Während des langen Brautstandes in dem „verdammten Nest“ bemühte er sich vergebens um eine Stelle im Badischen; er reiste 1777 von der Tübinger Universitätsfeier aus mit Seybold zum Markgrafen. Er hatte allen „scholastisch-theologischen Wust“ glücklich vergessen und wollte kein neues Examen ablegen. Seine Romane machten ihn eine Zeit lang berühmt, wie früher die Nonnenlieder; er wurde auf kleinen Reisen gefeiert und von einigen Adelsfamilien (Fugger, Arco) herangezogen. Im April 1780 zum Pfarrer der Ulmer Filiale Jungingen befördert, heirathete er am 27. Juni 1780. Die Ehe blieb kinderlos. Seine Schriftstellerei versiegte rasch. Er fand seine eigentliche Bestimmung im „Volks- und Jünglingslehrer“ und war in Ulm mit Schwager Mohler journalistisch thätig. Gedichte tröpfelten seit 1775 und gar seit 1780 spärlich dem ersten Schwall nach. Die mehrmals unterbrochene Correspondenz mit Voß ist voll von Klagen: über das Absterben des Bundes, über sein einsames Leben, das nie in die ersehnte idyllische Landpfarre verpflanzt wurde, über die „schwarze Kutte“. Er zeigt sich als Rationalist plattester Art. Ohne Freude am Beruf, versauerte er tabakqualmend zu Hause und am spießbürgerlichen [752] Stammtisch, nahm an der großen Litteraturentwicklung keinen Antheil, warf von alten Schwärmereien auch die Klopstockbegeisterung als Irtthum über Bord und erhielt sich nur in Göttinger Erinnerungen ein abgestandenes Nestchen von Poesie. Neben dem Junginger Amt wurde ihm im August 1781 die Professur für Naturrecht und dafür schon im December eine für Griechisch am Ulmer Gymnasium übertragen. Am 19. August 1783 zum Münsterprediger gewählt, übernahm er Anfang 1797 den Unterricht in katechetischer Theologie. Während der baierischen Zeit 1804 zum Consistorialrath, 1809 zum Districtsdecan und gegen seinen Wunsch zum Frühprediger an der Dreifaltigkeitskirche ernannt, kehrte er 1810 unter würtembergischem Regiment wieder ins Münster zurück und wurde geistlicher Rath und Decan für Ulm. Seine Bekanntschaften haben sich seit 1775 wenig erweitert. Nicolai sprach auf der berühmten Reise bei ihm vor (Beschreibung IX, 107 ff., 138). Mit Schwaben wie Haug, mit Salis, mit Matthisson (Erinnerungen I, 192 ff.; Briefe I, 68 und II, 75) ergaben sich Anknüpfungen. Klinger tauchte 1778 und 1782 in Ulm auf. F. L. Stolberg machte 1791 bei M. Station. Die glücklichste Zeit war der Besuch des Ehepaares Voß vom 29. August bis zum 17. September 1804 (Briefe III 2, 34 f.; Herbst II 2, 32 f.). Am 12. wurde gar der Stiftungstag des Bundes gefeiert, wozu sich auch der in der Beamtencarriere emporgediehene Vetter, jetzt Herr von Miller, etwas steif einfand. M. machte nur eine größere Reise: im Sommer 1795 nach Leipzig und Halle in Familienangelegenheiten. Am 9. März 1805 starb Miller’s brave Gattin. Kaum hatte Voß sein warmes Beileid ausgesprochen, so führte der Münsterprediger am 29. Juli sein Dienstmädchen zum Altar, und schon am 19. December ward ihm ein Söhnlein geboren, dessen Pathin Ernestine Voß wurde. 1810 war Heinrich Voß zwei Tage in Ulm; M., schreibt er an Charlotte Schiller (III, 251), sei zwar „unter die Ulmer Philister gerathen, aber sobald er aufthaut und sich in die alten Göttinger Zeiten hineinspricht, ist er gar liebenswürdig. Er hat zwei Kinder von fünf und einem Jahr, die ihn unendlich glücklich machen.“ Fritz Ernst ist in Ulm aufgewachsen; Rike kam früh zu Verwandten nach Kiel. Am 2. April 1812 starb ihre Mutter. M. heirathete am 27. October eine wackere Pfarrerswittwe. Sein letzter Brief an Voß ist vom 3. November 1810. Er starb am 21. Juni 1814. Seine dritte Frau trat bald in eine dritte Ehe. Das Vollständigste über Miller’s Leben bietet die aus dem Aufsatz im „Morgenblatt“ (Januar 1818) erweiterte, zum Theil auf Miller’s kurzer Autobiographie (Bock und Moser, „Sammlung von Bildnissen gelehrter Männer und Künstler“, Nürnberg 1793 Nr. 11) aber auch auf persönlicher Bekanntschaft fußende Darstellung in den „Zeitgenossen“ IV (13) S. 75 ff. (1819).

„J. M. Miller’s Gedichte“ erschienen in Ulm 1783 (mit Musik von Eschstruth, 1. Theil Marburg 1788), „Geschöpfe und Gespielen meiner Jugend“. Sie bedürfen der Ergänzung aus dem Bundesbuch (z. B. Herbst I, 283), den Briefen an Voß (Hof- und Staatsbibliothek in München), den Almanachen (Redlich, Versuch eines Chiffernlexicons S. 48) – auch dem Schwäbischen – u. s. w.; geändert ist sehr wenig. Ueber spätere Correcturen im Handexemplar s. „Zeitgenossen“ IV, 93. Er selbst beantwortet eine humoristische Frage Vossens S. 101 ff.: „Mich Johann Martin Miller hat Liederton und Triller Mama Natur gelehrt,“ doch überwiegt die Empfindelei gar sehr; Naturtöne sind selten, aber sie sind wenigstens da. Er hat seiner Zeit manch sangbares Lied geschenkt; Neefe, Weiß, Forkel u. A. componirten diese gefälligen Strophen; „Was frag ich viel nach Geld und Gut“ (1776) stellt sich neben die besten Gesellschaftslieder von Claudius und Hölty. Er dichtete heitere Trinklieder, Lieder der Freundschaft an Voß, Hahn, Stolberg, ein Abschiedslied für Esmarch [WS 3]. In Hahn’s [753] Polterton donnerte der stolze „deutsche Mann“ gegen Lutetia. In antiken Strophen „Der Todesengel am Lager seines Tyrannen“; auch das „Lied eines Gefangenen“ affectirt den revolutionären Geist der Göttinger Sclavenhasser. Die Liebeslyrik, wo 1772 die übliche Nummer „An meine künftige Geliebte“ nicht fehlt, ist mit wenigen Ausnahmen breiig, mondsüchtig, geziert, zimpferlich, weinerlich und auch durch die Verschwendung von zarten Diminutiven wie Seufzerchen, Zährchen, Thälchen, Bächlein spielerig. Er sagt von der Liebe: „Du zeigest deine Spur in schmachtenden Gebärden nur.“ Bürger räumte M. anfangs den ersten Rang als Lyriker ein (Strodtmann I, 106, 144, 165, Miller half ihm 186 ff.), ebenso Voß (Briefe I, 104). Beide sprachen über die späteren Gedichte streng ab (Strodtmann II, 158; Voß, Briefe II, 102) und Boie schreibt an Bürger (II, 214) im Januar 1778: „Millern – mag ich kaum mehr lesen“. In seiner Blüthezeit pflegte er mehrere Sondergruppen. Erstens „Bauernlieder“, darunter das kräftige „Beim Ernteschmaus“; aber trotz dem beabsichtigten Gegensatz zur Schäfermanier herrscht viel Maskerade, Mondanbetung und Gejammer über Tod und Untreue. Zweitens „Nonnenlieder“: Klagen im Garten und in der Zelle, lyrische Briefwechsel und Duette, sogar „Gebet einer Sünderin in einem Magdalenenkloster“; man denke an La Harpe, Gotter, Sprickmann, Leisewitz und an den „Siegwart“, aber auch an das Volkslied, an Uhland. Drittens „Minnelieder“ 1772 f. Im Frühjahr 1773 wollte sich M., der eben damals an Vossens und Hölty’s Plan eines deutschen Wörterbuches theilnahm, mit Bürger und Hölty zur gemeinsamen Herausgabe ihrer Minnelieder vereinigen (vgl. Voß, Briefe I, 130 und 132). Aber abgesehen von einigen nicht üblen Frühlingsliedern, die jedoch mehr an Kleist und Hölty mahnen, bleibt M. ein ganz äußerlicher Nachahmer, wirthschaftet mit den typischen Natureingängen und einer kleinen Wörter- und Phrasenlese und hat im „Lied eines Mädchens“ S. 143 Walthers „Unter der Linde“ nicht nur zu neun Strophen verbreitert, sondern jämmerlich umgedichtet: „Weinend bat er mich und weinend setzt’ ich neben ihn auf’s Blumenlager mich.“ 1772 hat auch er Marlowe’s Come, live with me übertragen, 1788 The nymphs reply von W. Raleigh. Den Gedichten ist ein älterer Aufsatz über Hölty beigefügt.

1775 gab sich M. in Ulm einer ungeheueren Vielschreiberei hin. Ein bürgerliches Trauerspiel zwar blieb liegen, dafür warf er einen Roman nach dem andern auf den Markt. Er knüpfte an die „Leiden des jungen Werther’s“ an. Im gleichen Verlag wie Goethe’s ewige Herzensdichtung, bei seinem Verwandten Weygand in Leipzig erschien 1776 der – 1780 sehr erweiterte – „Beytrag zur Geschichte der Zärtlichkeit aus den Briefen zweyer Liebenden“, ein mattherziges Product voll heiliger, schwindsüchtiger Liebe mit einigen erlebten Elementen; episodisch und sentimental behandelt er ein gefallenes Mädchen. In demselben Jahre weckte eine Fluth von Thränen: „Siegwart. Eine Klostergeschichte“ in zwei Bänden, 2. Auflage 1777 mit hübschen Chodowieckischen Kupfern und einer Revision der Klosterschilderungen, mehrfach nachgedruckt und übersetzt, weit verbreitet (vgl. Miller’s Prahlerei an Bürger II, 214), noch Stuttgart 1844 wiederholt. Recensionen hoben das Buch in alle Himmel; wenige Gegner protestirten laut; „entsetzliche Langeweile“ wie Anton Reiser (Moritz) mögen wir aber auch heute nicht spüren. Siegwart ist nicht nur eine Haupturkunde der empfindsamen Periode und des Wertherfiebers (Edmund Kamprath, „Das Siegwartfieber“ … Wiener-Neustadt, Gymn.-Progr. 1877, 26 S. Lose Auszüge und Citate), sondern auch eine beobachtungsreiche Fundgrube für das damalige süddeutsche Leben. Anfangs vergoldet der protestantische Vicar das Klosterleben. Der Amtmannssohn Xaver Siegwart besucht einen Pater, seines [754] Papas Jugendfreund. Seine Schulzeit in Günzburg, wo er sich mit Wilhelm v. Kronhelm verbrüdert (man denke auch an die adeligen Stolberg in Göttingen), beruht zum Theil auf Miller’schen Jugenderinnerungen (vgl. Lappenberg. Briefe von und an Klopstock S. 298) an das Kapuzinerkloster und das Piaristen-Collegium in Günzburg. Die Freunde verkörpern in Ingolstadt einen schönen schwärmerischen Gegensatz wider das rohe Burschenleben; die Anwendung auf Göttingen liegt nahe. Man liest gute Dichter und schwelgt in zärtlicher Musik, was geradezu komisch ausgemalt wird. Zwei Liebeshändel kommen in Schwung. Kronhelm verliebt sich als Gast in Therese Siegwart; diese sentimentalste Partie bis zum Schwur über der nassen Messiade, dem Gewitter, dem nächtigen Valet ist aus Miller’s Tagebuch der Mündener Abschiedswoche abgeschrieben (vgl. meinen Aufsatz „Aus dem Liebesleben des Siegwartdichters“ Deutsche Rundschau, September 1881), erlebt und doch erlogen, wiewol die Grenze zwischen bewußter und unbewußter Komödie hier schwer zu ziehen ist. Der alte Kronhelm führt bei Siegwart’s eine furchtbar brutale Scene auf, die sich Schiller im berühmten Finale von „Kabale und Liebe“ mit überlegenster Kraft zu Nutze machte. Miller’s „Siegwart“ ist aber keineswegs einzig und allein ein Buch der Liebesschwärmerei und der Thränen: abgesehen von der komischen Augsburger Amtsmännin haben wir realistisch geschilderte scheelsüchtige Verwandte und im Junker Kronhelm einen rohen Nachfolger des Fieldingschen Western, einen Wüstling, Nimrod und Bauernschinder. Sein jäher Tod befreit Wilhelms Liebe. Siegwart, wie M. von einer Ulmerin, hoffnungslos geliebt von einer tagebuchschreibenden Sophie, verliert in der Kirche sein Herz an die Hofrathstochter Marianne Fischer, deren Aeußeres nach Jungfer Spranger beschrieben wird. Verhimmelte Concerte, Mondscheinscenen, Schlittenpartien und als Krone ein Ball, gegen welchen der im „Werther“ ein Spaß ist. Es wird sogar beim Walzer geweint. Schreibt doch Miller (Leipzig 4 II 75) an Voß: „Mein Liebchen muß weinen können und Thränen lieben.“ Erotische und religiöse Schwärmerei sind gepaart. Aber Siegwart und sein Engel werden getrennt. Die Tragik hat gar nichts zwingendes. Ein hofräthlicher Rival tritt auf, eine gute Tante kann nicht helfen, Vater Fischer tobt und steckt Mariannen ins Kloster. Der Held wird, nachdem er im Wald einen Einsiedler, einen edlen Mörder getroffen, Gärtner im Kloster, aber gar nicht wie Boccaccios Masetto, singt ein 1776 berühmtes Lied und glaubt endlich, sein Mädchen sei todt. Er wird Mönch. Einmal ruft man ihn einer sterbenden Nonne. Es ist Marianne. Er wirft sich über ihr Grab und endet so. Alles in zerflossener Darstellung, welche auch die derberen Partien überfluthet, in frauenzimmerlichen Sätzen, theilweise in geschmacklos rhythmischer Prosa (s. meinen „Richardson, Rousseau und Goethe“ 1875, S. 316 f.), höchst phrasenhaft. 1778 veröffentlichte Seybold sein langweiliges, auf „Telynhard“ Hartmann und das Tübinger Stift zielendes Buch „Hartmann eine würtembergische Klostergeschichte“. In Holland erschien Feith’s „Julia“. Auch spätere Nachahmungen, wo etwa der Liebende als Kaminfeger ins Kloster dringt, blieben nicht aus. 1780 „Siegwart der Zweite, eine rührende Geschichte“. Bernritter schrieb die lustige Parodie in Reimen „Siegwart oder der auf dem Grab seiner Geliebten jämmerlich verfrohrene Kapuziner“ (Mannheim 1777, 39 S); dagegen ist sehr ernst das anonyme Büchlein „Siegwart und Mariana, eine Romanze in drei Gesängen“, (Cuba bei Gera o. J.). Goethe vergaß den Siegwart nicht im „Triumph der Empfindsamkeit“; noch Tieck stichelt öfters und liefert „Peter Lebrecht“ Cap. 12 „Der neue Siegwart, eine Klostergeschichte“. Neben verzückten Versen bekam M. auch heftige Proteste gegen diese fade, thatenlose, winselnde Unmännlichkeit zu hören (vgl. Almanach der Bellettristen und Bellettristinnen fürs Jahr 1782, S. 139 ff.). [755] Die litterarischen Freunde Miller’s waren wenig erbaut. Bürger schimpfte, daß Siegwarts den frechen Junker nicht hinausgeworfen, und fand zu viel Thränen (Strodtmann I, 373; II, 61 f.). Der feste Voß zürnte dem ganzen Geschreibsel wie früher der Liebesodyssee des halt- und marklosen Verfassers. Umsonst mahnte er zur Langsamkeit und Feile (Briefe II). Er haßte Miller’s „Wasserromane“, die „leidige Nutzenstifterei“, das „ewige Moralgeschwätz“ (III 1, 191, III 2, 117).

Ebenfalls noch 1776 begann der „Briefwechsel dreier akademischer Freunde“ (1778 vermehrt): uneinheitlich, schleuderig, partienweise recht öde, aber culturgeschichtlich wichtig für die Entwicklung eines jungen Theologen vor hundert Jahren und damaliges Pastorenleben, litterarhistorisch wegen der Abspiegelung des Göttinger Studenten- und Bürgerwesens, der Charakteristik einzelner Lehrer (sehr ungünstig Michaelis als Hainfeind), des Miller’schen Besuches in Hamburg und Wandsbeck. Der eine Freund verkommt (Seebach?). Die Liebe ist minder thränenselig als im „Siegwart“ behandelt. Der leere pädagogische „Briefwechsel zwischen einem Vater und seinem Sohn auf der Akademie“ schließt sich 1785 an.

1778–80 erschien in vier Bänden mit thörichten Vorreden „Geschichte Karls von Burgheim und Emiliens von Rosenau. In Briefen“, ein wüstes, furchtbar langweiliges Werk (1781 Grundlage für ein anonymes Drama). Es ist eine verspätete Richardsoniade, versetzt mit Elementen aus Fielding; die forcirten Donquixoterien Erlach’s deuten auf „Grandison den Zweiten“ von Musäus. Verwickelte Liebesgeschichten voll Leid und Freud, Landleben, Reisen, massenhafte Abschweifungen. Die zornigen Ausfälle gegen den frechen Parodisten der „Clarissa“ deuten auf Bernritter. Im vierten Band führt Miller u. A. die Stolberg auf ihrer Schweizerreise, Gräfin Gustchen, Lavater, Kayser, sich selbst mit vollen Namen lang und breit vor! Voß war wüthend und Graf Fritz schrieb diesem: „Ich kann wahrlich seine Romane nicht lesen. Im Burgheim hat er meinen Bruder und mich jämmerlich vorgeritten“ (Arndt XXIII). M. war als Bellettrist fertig. Die im vierten Bande des „Burgheim“ versprochene „Geschichte Breitenthals oder die Folgen des Zweikampfes“ kam nicht. Tiefer steigend gab er in Ulm 1786 heraus „Die Geschichte Gottfried Walthers, eines Tischlers und des Städtleins Erlenburg. Ein Buch Für Handwerker und Leute aus dem Mittelstand“ (496 S.), worin zur Warnung vor dem Kaffeetrinken und anderer Ueppigkeit das lamentable Verarmen einer Familie und eines neuen kleinen Sodom langathmig und carikirend erzählt wird. – 1776 ff. erschienen drei Bändchen beifällig aufgenommener „Predigten für das Landvolk“, 1790 „Predigten über verschiedene Texte und Evangelien, hauptsächlich für Stadtbewohner“, 1795 „Sechs Predigten bei besonderen Veranlassungen“; derlei und die ältere biographische Litteratur s. Jördens III, 579 ff., dazu „Zeitgenossen“ XIII, Morgenblatt 1818, 39 ff. – Caroline Schelling berichtet 1809 (II, 369): „In Ulm bestiegen wir den Münster, drinnen predigte eben Martin Miller; im Durchgehen hörten wir ihn viel von den Unannehmlichkeiten und Beschwerden des Lebens hererzählen, und die Ausführung schien mir so wenig neu wie der Text.“ Wie hatte der Mann sich überlebt, von dem 1776 ein verzückter Recensent schrieb „Natur und Miller, ihr seid meine Führer!“


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johann Michael Miller (1722–1774); evangelischer Pastor; ein älterer Bruder von Johann Peter Miller
  2. Gottlob Dietrich Miller (1753–1822); ein Sohn des Ulmer Rektors Johann Peter Miller
  3. Christian Hieronymus Esmarch (1752–1820), Verwaltungsbeamter, Vater von Heinrich Carl Esmarch.