ADB:Moscheles, Ignaz

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Artikel „Moscheles, Ignaz“ von Robert Eitner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 22 (1885), S. 345–351, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Moscheles,_Ignaz&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 04:48 Uhr UTC)
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Moscheles: Ignaz M., der bedeutendste Claviervirtuose der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der selbst neben einem Liszt noch siegreich die alte Schule behauptete, ein vortrefflicher Lehrer, zu dem aus allen Welttheilen sich die Schüler drängten und ein unermüdlicher Verfechter der Klassiker, anfänglich gegen die Italiener, später gegen die Wagner-Liszt’sche Periode. M. wurde am 30. Mai 1794 in Prag von jüdischen Eltern geboren. Der Vater war Tuchhändler und ein großer Musikfreund, dessen sehnlichster Wunsch darin bestand, daß sich eines seiner Kinder in der Musik ausbildete. Ignaz’ musikalische Anlagen zeigten sich früh, und beim Clavierunterricht der älteren Schwester war er stets ein eifriger Zuhörer, der sein Gefallen und Mißfallen laut kund gab, so daß der alte Lehrer Zadrakha den Vater aufmerksam machte und er an ihm einen fleißigen lernbegierigen Schüler erhielt. Moscheles’ Technik entwickelte sich so schnell, daß er dem alten Lehrer über den Kopf wuchs und nach seinem Gefallen sich selbst die Musikstücke auswählte, die natürlich zu seiner Technik in keinem Verhältniß standen; besonders reizten den siebenjährigen Knaben die Beethoven’schen Sonaten, die er sich aus der Leihbibliothek zu verschaffen wußte und die er in seiner knabenhaften Laune jämmerlich zerzauste. Der Vater war verständig genug diesem Unwesen zu steuern und stellte den Sohn dem damals berühmten Dionys Weber in Prag vor, mit dem Wunsche, wenn er die Anlagen des Knaben ausreichend fände, ihn unter seine strenge Zucht zu nehmen. Weber erkannte wol unter dem wuchernden Unkraute das treffliche Talent und nahm ihn als Schüler auf, unter der strengen Bedingung, daß er nur spiele, was er ihm selbst aufgäbe, sonst bräche er den Unterricht sogleich ab. Mozart, Clementi und später Bach waren die einzig erlaubten Meister die er studiren mußte. Sein geliebter Beethoven war verpönt. Weber, ein abgesagter Feind der Beethoven’schen Muse, hat erst in späteren Jahren die Größe Beethovens erkannt, doch stets nur die Werke der ersten Periode gelten lassen; weiter ist er nie gekommen. Die strenge Zucht trug dem Knaben aber die besten Früchte und als er seinen geliebten Vater schon im 14. Jahre (1808) verlor, stand er bereits auf eigenen Füßen, gab unter Weber’s Leitung ein Concert, was ihm bereits einige Subsistenzmittel eintrug und erregte durch seine Compositionen Aufsehen. Die Mutter erkannte recht wol, daß ihr Sohn in Prag nicht bleiben könne, wenn sein Flug einen höheren Aufschwung nehmen solle; obgleich sie selbst mit Nahrungssorgen zu kämpfen hatte, setzte sie es doch durch, daß Ignaz nach Wien ging, um sich weiter fortzubilden und sich einen größeren Wirkungskreis zu schaffen. Moscheles’ liebenswürdiges und bescheidenes Wesen, sein tüchtiges Können und edles Streben ließen ihn in Wien schnell festen Fuß fassen, und bald hatte er die Freude, der Mutter und den Geschwistern ein sorgenfreies Leben zu bereiten. In Wien nahm er theoretischen Unterricht bei Albrechtsberger, der ihm schon 1808 folgendes Zeugniß ausstellt: „Endesunterschriebener bezeuget hiermit, daß der Ignatz Moscheles durch einige Monate bei mir die Musikalische Satzkunst so gut erlernet habe, daß er im Stande ist (indem er auch auf dem Fortepiano und auf der Orgel meisterlich spielt) sein Brod [346] mit beiden Künsten überall zu verdienen. Und da er jetzt Willens ist Reysen zu machen, so finde ich’s für billig ihn aller Orten besten anzuempfehlen“. Nun glaubte M., er sei ein fertiger Mann. Ein Besuch bei dem Kapellmeister Salieri belehrte ihn eines anderen. Salieri war nicht zu Hause und M. sieht auf dem Tische einen Zettel liegen, auf dem in Lapidarschrift geschrieben steht: „Der Schüler Beethoven war da“! Das gab mir zu denken – schreibt M. Ein Beethoven kann noch von einem Salieri lernen? Um wieviel mehr ich. M. wurde sein Schüler und drei Jahre lang sein Adjunct in der Oper; auch erhielt er die Erlaubniß, alle Theater unentgeltlich besuchen zu dürfen. „Es war ein heiteres vielbewegtes Leben in dem lieben Wien“, schreibt er selbst über diese Zeit.

Vom Jahre 1814 ab besitzen wir ein Tagebuch von M., 1872 von seiner Frau nebst Briefen herausgegeben (Leipzig 1872, 2 Bde.), welches ein vortrefflicher Führer nicht nur durch Moscheles’ eigenes Leben, sondern durch die ganze Zeit bis 1870 ist. Es ist das werthvollste Vermächtniß was er der Welt hinterlassen konnte, werthvoller als manche Selbstbiographie, deren Schreiber nur immer sich selbst beleuchtet. Wien fesselt M. noch einige Jahre; der Umgang mit Meyerbeer wirkt fördernd auf sein empfängliches Talent; begierig macht er das Gute, was ein Jeder ihm bietet, sich zu eigen. So bildet sich sein Ich zu einer originellen Einheit aus, die bald alle Welt in Staunen versetzen soll. Die erste Gelegenheit dazu geht von der Stiftsdame Gräfin Hardegg aus, die alljährlich ein Wohlthätigkeits-Concert arrangirte. Sie läßt Moscheles rufen und fordert ihn auf mitzuwirken. M. zeigt wenig Lust, da er nichts Neues componirt habe – die Zeiten waren damals anders als heute: man verlangte vom Virtuosen damals stets ein neues Stück – doch die Gräfin läßt sich nicht abweisen und es wird endlich beschlossen über den Marsch, welchen das dem Kaiser Alexander von Rußland zugewiesene Regiment spielte, Variationen zu schreiben. Am 29. Januar 1815 beginnt M. die Arbeit und am 5. Februar ist sie beendigt. Es sind dies dieselben Variationen (mit Orchesterbegleitung), von denen es durch viele Jahre hindurch hieß, nur M. könne sie spielen und die in Wien, wie auf späteren Kunstreisen seiner Bravour stets die Krone aufsetzten. Am 8. Februar fand das Concert statt und seine Variationen fanden den ungetheiltesten Beifall. Am 9. Februar gibt er im Vereine mit Hummel ein Concert und er hat die Freude, daß sein Lehrer Salieri sich unter den Zuhörern befindet und mit seinen Leistungen zufrieden ist. Die Großherzogin von Weimar sagt ihm viel Schmeichelhaftes und ladet ihn ein in Weimar zu concertiren. Auch die Lust öffentlich zu phantasiren, theils über eigene, theils über gegebene Themen, regt sich bereits bei ihm und die Erfolge, die er damit erreicht, spornen ihn an, diesem Felde mehr Thätigkeit zuzuwenden. Hummel und M. waren damals die Spitzen der Pianisten und es bildeten sich förmlich zwei Parteien, deren jede ihren Mann auf den Schild hob. Hummel’s Anschlag war weicher, man sagte er habe Sammet unter den Fingern, während M. durch eine übersprudelnde Bravour und den jugendlichen Enthusiasmus Alles mit sich fortriß. M. selbst dagegen eifert Hummel in der Composition fleißig nach und ist wenig mit seinen eigenen Leistungen zufrieden. Das Hummel’sche Septett war in seinen Augen die schönste Leistung Hummel’s, der er gern nachgeeifert hätte. Zwischen Hummel und M. selbst bestand das schönste Einverständniß, und als Hummel zeitweise Wien verließ, übergab er M. einen talentvollen Schüler zur Weiterbildung. Mit Beethoven trat er in nähere Verbindung, als ihm der ehrenvolle Auftrag wurde, dessen Fidelio im Clavierauszuge zu bearbeiten. Sein bescheidenes und liebenswürdiges Wesen half ihm auch hier, dem menschenscheuen Meister näher zu treten und sich seine Liebe zu erwerben, ein [347] Geschenk, was M. in kindlicher Verehrung wie ein Heiligthum bewahrte und bis an sein Lebensende durch stetiges Wirken für die Werke des großen Meisters, die sich so schwer Eingang verschafften, bethätigte.

Noch nicht ganz 22 Jahre alt schrieb er sein bedeutendstes Werk, welches sich bis zur Jetztzeit erhalten hat und stets seinen Werth behalten wird: die große Sonate zu 4 Händen in Es-dur, die er 1816 dem Erzherzog-Cardinal Rudolf dedicirte, auch öfter mit ihm spielte. Wien war damals das Eldorado für die Musik. Von der höchsten Aristokratie herab bis zum einfachen Bürger wetteiferte ein Jeder zum Besten der Kunst. Jeder Künstler, der kleinste wie der größte, fand Anerkennung und Verdienst. Die Moscheles’schen Tagebücher geben hierfür das beredteste Zeugniß und sind für die Beurtheilung damaliger Zeitverhältnisse außerordentlich werthvoll. – Als Virtuose stand M. im J. 1816 auf einer damals den Zeitgenossen unerreichbaren Stufe, wie alle erhaltenen Nachrichten bezeugen. Robert Schumann erinnert sich noch in später Zeit seines Spieles und schreibt ihm, als M. Schumann die Sonate opus 121 gewidmet hatte: „Freude und Ehre haben Sie mir bereitet durch die Widmung Ihrer Sonate; sie gilt mir zugleich als eine Ermunterung meines eigenen Strebens, an dem Sie von jeher freundlich Antheil nahmen. Als ich, Ihnen gänzlich unbekannt, vor mehr als dreißig Jahren in Karlsbad mir einen Concertzettel, den Sie berührt hatten, wie eine Reliquie lange Zeit aufbewahrte, wie hätte ich da geträumt von einem so berühmten Meister auf diese Weise geehrt zu werden“ …

Moscheles’ Freunde und Gönner reden ihm eindringlichst zu auf Reisen zu gehen und Concerte zu geben. Im Herbste 1816 verläßt er Wien, mit den besten Empfehlungsschreiben an Höfe, diplomatische und kunstliebende Größen versehen, und wendet sich zuerst nach Leipzig. Dort gibt er zwei Concerte, die seinen Ruf als Componist und noch mehr als Virtuose fest begründen. In Dresden spielt er bei Hofe und so geht es durch alle bedeutenden Städte bis nach Holland. Abwechselnd wieder in Wien, unternimmt er 1820 die zweite größere Reise, die ihn bis Paris und London, seiner späteren zweiten Heimat führt, überall mit Enthusiasmus empfangen und mit reichem Gewinn nur ungern entlassen. 1820 schreibt er in Amsterdam sein so berühmt gewordenes G-moll-Concert, das einst die Reise durch die ganze Welt machte und erst in neuerer Zeit verstummt ist. Die Honorare die ihm von den Verlegern geboten werden, beweisen am besten, welchen Absatz sie mit seinen Compositionen erzielten und wie M. fast 50 Jahre lang das Repertoire der Clavierspieler beherrschte. Auch seine Concert-Einnahmen waren bedeutende zu nennen. So verzeichnet er z. B. in seinem Tagebuche die Einnahmen von zwei Concerten in Copenhagen. Beim ersten Concert belief sich die Totaleinnahme auf 1500 Thlr. und beim zweiten blieben ihm 641 Thlr. reiner Gewinn.

Im J. 1824 besucht er zum ersten Male Berlin und lernt Felix Mendelssohn kennen, eine Bekanntschaft, die sich bis zur innigsten Freundschaft trotz des Altersunterschiedes steigerte. M. schreibt über Mendelssohn: „Er ist eine Erscheinung wie es keine mehr gibt. Trotz seiner Jugend (er war damals erst 15 Jahr alt) ist Felix schon ein reifer Künstler“. Trotz alledem dringt die Mutter Mendelssohn’s in M., ihren beiden Kindern – Felix und Fanny – Unterricht zu ertheilen. M. in seiner stets klaren Erkenntniß seiner eigenen Leistungen weicht der Aufforderung aus, denn er sagt sich, du kannst von diesem Gott begnadeten Jüngling weit eher lernen als er von dir. Doch die Mutter, stets das Wohl ihrer Kinder im Auge, läßt nicht ab M. zu bitten. Ihre Zeilen an M. sind für die Stellung, die er sich der Welt gegenüber erworben hatte, zu charakteristisch um nicht mitgetheilt zu werden. Sie schreibt am 18. November 1824: „Haben [348] Sie auch gütigst unserer Bitte um Lehrstunden gedacht? Sie würden uns höchlich dadurch verbinden, wenn es anders geschehen kann, ohne ihren Plan für den hiesigen Aufenthalt dadurch zu stören. Halten Sie diese wiederholten Anfragen nicht für unbescheiden und schreiben Sie sie lediglich dem Wunsche zu, mein Kind die Anwesenheit des prince des pianistes benutzen zu lassen“. Am 22. Nov. schreibt M. in sein Tagebuch: „Heute Nachmittag von 2–3 Uhr gab ich dem Felix Mendelssohn seine erste Lection, verkannte es aber keinen Augenblick, daß ich neben einem Meister, nicht neben einem Schüler saß. Ich bin stolz darauf, daß seine ausgezeichneten Eltern mir nach kurzer Bekanntschaft diesen Sohn anvertrauen und glücklich ihm einige Winke geben zu dürfen, die er mit der ihm eigenen Genialität auffaßt und verarbeitet“.

1825 concertirt M. unter großem Zulauf in Hamburg. Unter der Zuhörerschaft befindet sich auch seine künftige Frau, Charlotte Embden. Sie hing wie verzaubert an diesen Wunderfingern; er bemerkte das junge Mädchen nicht, doch wurden sie schon in den nächsten Tagen bekannt, waren am 2. Febr. Bräutigam und Braut, und am 2. März vermählt. Am 7. März setzte er mit ihr die Concerttour, die über Paris nach London ging fort. In diesen sechs Wochen die er in Hamburg verlebte, gab er zwei selbständige Concerte, spielte dreimal im Theater, in der Freimaurerloge, zum Besten der Ueberschwemmten der Umgegend, unterstützte verschiedene Künstler in ihren Concerten, dazwischen gab er in Lüneburg und Altona Concerte, verlobte und verheirathete sich und hat wahrscheinlich noch Manches componirt. Diese ans Fabelhafte grenzende Thätigkeit zieht sich durch sein ganzes Leben bis ins hohe Alter hin. Er hatte eine kräftige untersetzte Gestalt, ein ruhiges Temperament und dennoch muß man sein Nervensystem bewundern, das diesen aufregenden Strapazen nie unterlag.

In London richtet er sich nun häuslich ein, gibt jährlich ein selbständiges Concert und wirkt außerdem vielfach in anderen Concerten mit. In der Saison ist er von Schülern umlagert, die sich trotz der 2 Guineen für die Lection (40 Mk.) um ihn reißen, so daß er nicht alle befriedigen kann. Er schafft sich schließlich Pferd und Wagen an und fährt wie die Aerzte von Patient zu Patient. Er sagt einmal mißmuthig, die Finger meiner vornehmen Schülerinnen kann ich wol curiren, doch ihre Ohren nie. Als Componist ist er gezwungen viel Tageswaare zu schreiben, die zwar gut bezahlt wird, doch ihm wenig Vergnügen macht. Immer ist er bemüht sich fortzubilden und als Componist größeres zu leisten, doch die eigene Erkenntniß bewahrt ihn vor Ueberschätzung. Seine Sinfonie und andere größere Werke erkennt er nicht als große Leistungen an und beschränkt sich immer mehr auf sein eigentliches Fach, die Pianoforte-Composition. Schon 1825 entstehen einzelne der so berühmten „Studien für das Pianoforte“, die später, als opus 70 bei Kistner in Leipzig erschienen, auch noch heute als klassische Vorbilder zum Studium dienen. Hier bewegt er sich ganz in den ihm von der Natur gesteckten Grenzen und schafft in jeder einzelnen Etüde ein kleines Meisterstück: sie wurden maßgebend für die heranwachsende Generation und trugen seinen Ruf als Componist in alle Welt. Klar in der Form, präcis im Ausdruck, die Motive charakteristisch und prägnant durchgeführt, stets den Zweck einer bestimmten Uebung im Auge, ansprechend in Erfindung wie Durchführung, wurden sie von Allen hochgehalten. Chopin, Liszt, Thalberg spielten sie mit demselben Eifer, als sie von Schülern geübt wurden. Es gibt kein zweites Werk in der Musiklitteratur, was diesen Etüden an die Seite gesetzt werden kann, denn J. B. Cramer’s Etüden sind weniger kunstvoll, mehr Uebungen, und die von Chopin, Henselt, Thalberg und Liszt mehr Kunstwerke als Etüden. Nur Moscheles’ Studien verbinden in meisterlicher Weise beides mit einander.

In London war er nicht nur der „prince des pianistes“, sondern der [349] Beherrscher des ganzen Musikreiches. Alles ging durch seine Hände, jeder wollte Rath und Hilfe von ihm und sein Haus war der Sammelpunkt nicht nur aller zureisenden berühmten Musiker und Sängerinnen, sondern auch der Vereinigungspunkt aller anderen Künstler. So anstrengend eine Londoner Saison ist, so viel Annehmlichkeit bietet die übrige Zeit des Jahres, die in Ruhe, Erholung oder in Reisen und Concerten in anderen Städten oder auf dem Festlande verlebt wird. Kein Jahr vergeht, wo M. nicht den Herbst in stiller Zurückgezogenheit oder bei befreundeten Familien auf dem Lande zubringt, stets freilich in Begleitung eines Flügels und in steter Uebung der ihm lieben und heiligen Kunst. Unermüdlich kann er andere durch seine Kunst erfreuen und die Blasirtheit der Künstler ist ihm völlig fremd. Seine wahrhaft stählerne Natur that freilich das Ihrige und entschuldigt wieder Andere, die zeitweise der Musik ganz entsagen müssen. Es ist ein Genuß in seinen Tagebüchern zu blättern, die Frische seines Geistes zu bewundern und die treffenden Urtheile über andere Künstler zu lesen. Der Winter wurde stets zum Concertiren in den Provinzen oder auf dem Festlande benützt. Trotz des damaligen langsamen Reisens, erstrecken sich seine Ausflüge, meist in Gesellschaft seiner Frau, die er ungern entbehrt, bis Paris, Berlin, Wien, Leipzig und erst im April ist er wieder in London. So spinnt sich sein Leben zwanzig Jahre hin. Manchmal seufzt er zwar unter der Last der Geschäfte und denkt daran, sich nach seinem geliebten Deutschland zurück zu ziehen, doch zum festen Entschluß gelangt er erst, als ihn Mendelssohn an das neugegründete Conservatorium für Musik in Leipzig ziehen möchte und die Direction M. in der ehrenvollsten Weise die Stelle als Professor des Clavierspiels anträgt. Mendelssohn thut das Uebrige, das anstrengende Leben in London, das herannahende Alter, die neue Richtung der modernen Virtuosen wirken auch mit und M. entschließt sich im J. 1846, die brillante londoner Stellung mit dem kleinen Leipzig zu vertauschen. Man könnte wol etwas verwundert fragen, wie sich M. dazu entschließen konnte, doch es wirkten soviel Factoren zusammen, die ihm die Londoner Stellung erschwerten und die Leipziger erleichterten, daß seine Wahl eine sehr weise war. M. hatte das fünfzigste Jahr überschritten, sah sich von den himmelstürmenden jüngeren Virtuosen überholt. Wer konnte mit Thalberg und Liszt concurriren? Als Componist war er bereits zu einem verständigen Abschluß gekommen, es blieb ihm also nur das Lehrfach übrig. London bot ihm keine Garantie, daß er stets so gesucht werden würde als noch zur Zeit. Chorley macht im Athenäum die sehr richtige Bemerkung, als alle anderen Blätter über das Scheiden Moscheles’ murren: warum – schreibt er – hat die große Stadt London dem großen Künstler nicht eine Anstellung geboten, die ihn eben so sicher und angenehm fesselt, wie es nun die kleine Bürgerstadt thut? Das hätte all’ ihren Klagen über seinen Verlust abhelfen können“. Der Hauptanziehungspunkt in Leipzig war aber Mendelssohn selbst. Seit sie sich im Jahre 1824 kennen lernten – der dreißig- und der fünfzehnjährige Künstler – war das Band der innigsten Freundschaft bei Mendelsohn’s vielfachen Besuchen in London und wieder Moscheles’ Besuchen in Berlin immer enger und fester geschlossen worden. M. sagt manchmal, Felix ist mir wie aus dem Herzen geschnitten, ich möchte ihn Sohn, Freund, Meister nennen, ich möchte in ihm aufgehen, und ein Gleiches schien Mendelssohn zu empfinden. Die Trennung empfanden beide schmerzlich. Die Vereinigung nun unter so günstigen Verhältnissen zu erreichen, warf ein schweres Gewicht in die Wagschale zu Gunsten Leipzigs. Ferner mußte sich M. gestehen, daß bei allen musikalischen Leistungen in London nur die virtuose Seite zur Geltung kam. Jedes gemeinsame Zusammenwirken bei Orchester- und Chorwerken war Stückwerk, da man sich stets nur mit einer einzigen Probe [350] begnügen mußte, theils der unerschwinglichen Kosten halber, die jedes weiteraussehende Unternehmen im Keime erstickt haben würden, theils wegen der Unmöglichkeit, so große Massen in dem weitläufigen London zum öfteren gemeinsamen Ueben zusammen zu bringen. Selbst die so berühmten philharmonischen Concerte litten unter diesem Uebelstande, und als man im J. 1824 und den folgenden Jahren die 9. Sinfonie Beethoven’s aufführte, die ja Beethoven der philharmonischen Gesellschaft dedicirt hatte, fiel sie jämmerlich der geringen Proben halber durch. Erst im J. 1837, als man M. mit der Direction betraute, errang sie sich durch seinen unermüdlichen Fleiß einen durchschlagenden Erfolg, und erhielt sich dann fortdauernd auf dem Repertoire. Leipzigs Musikverhältnisse dagegen boten Genüsse, die M. schmerzlich in London vermißte. Die Gewandhaus-Concerte waren unter Mendelssohns Direction zu einer Vollkommenheit gediehen, die alle Welt in Staunen setzte. Die Chorleistungen waren vorzüglich und Kammermusik ließ sich mit Leichtigkeit jederzeit veranstalten. Leichten Herzens nahm daher M. am 15. September 1846 Abschied von London, nachdem ihm noch der ehrenvolle Auftrag geworden war, im August neben Mendelssohn das Birmingham’sche Musikfest zu dirigiren. In Deutschland kommt ihm Alles jubelnd entgegen und freut sich, den hochverehrten Meister endlich den Engländern entrissen zu haben. In Leipzig selbst wird er in der ehrenvollsten Weise empfangen und man sucht ihm sein Leben in jeder Hinsicht zu verschönen. Auch die englischen Eleven sind ihm nachgereist und studiren unter seiner Leitung nun in Leipzig.

Leider war das Zusammenleben mit Mendelssohn nur von kurzer Dauer, doch sie haben das ihnen zugemessene Jahr reichlich benützt. Als Mendelssohn auf seinem letzten Lager lag und M. bei ihm wachte, schrieb er in sein Tagebuch köstliche Worte der Trauer und Klage um den verlorenen Freund. Sie lassen uns einen tiefen Blick in das herrliche Gemüth Moscheles’ thun. „Natur, verlangst Du Deine Rechte? Engel, deren Heimath die himmlischen Sphären sind, wollt Ihr Euren Bruder, den Ihr als Euer eigen betrachtet, den Ihr zu hoch zum Verkehr mit uns gewöhnlichen Sterblichen haltet? Noch besitzen, noch umklammern wir ihn, wir hoffen auf die Gnade Gottes, den noch länger unter uns zu lassen, der uns stets als ein Muster alles Edlen und Schönen geleuchtet hat, der unser Jahrhundert ziert! … Kann unser Flehen uns den Menschen, den Mitbruder von Dir erbitten? Welches Werk hast Du in ihm vollbracht? Du hast uns gezeigt, wie hoch sich der Mensch zu Dir erheben, wie er sich Dir zu nähern vermag! Keiner ist Dir näher gekommen als er, für den wir zittern. Laß ihn auch den irdischen Lohn genießen, laß ihn die Liebe seiner Lebensgefährtin, die Entwickelung seiner Kinder, die Bande der Freundschaft, die Verehrung der Welt genießen!“ –

Das Leben ging auch über diesen Schmerz mit ehernem Tritt hinweg und M. empfand es als seine doppelte Pflicht, seine Stellung in Mendelssohns Sinne weiter fortzuführen, obgleich seine Frau keinen Grund mehr sah sich an Leipzig zu fesseln. Das großstädtische Londoner Leben mit seinen Festen und großartigem Gepränge schien sie in Leipzig mehr zu vermissen als ihr Mann, dem die behagliche Ruhe sehr wohl that. – Oeffentlich trat M. fortan nicht mehr auf; alljährlich aber wurden Vergnügungsreisen nach allen Gegenden hin unternommen: Reisen nach Venedig, der Schweiz, Paris, London und zu Freunden, wechselten mit einander ab. – Bereits 1847 spricht er sich über sein Spiel im Gegensatz zu den modernen Virtuosen aus: „Ich habe immer einer Schule angehört, die mehr auf Klarheit und Accent als auf lautes Dreinschlagen, mehr auf richtiges Verständniß und gute Wiedergabe, als auf überraschende Effecte hinzielt“. Er studirte fleißig die Chopin’schen Werke, stößt sich aber stets an den frappanten Modulationen und klagt, daß ihm solche Stellen nicht in die [351] Finger wollen. Seinen Beethoven studirt er besonders eifrig und die letzten Sonaten sind ihm wohlbekannte Freunde. Seine Ausgabe der Beethoven’schen Sonaten ist bekannt und geschätzt. Auch in Deutschland steht er stets an der Spitze aller Musikunternehmungen, so bei der Gründung der Bachgesellschaft im J. 1850, doch dringen leider seine Ansichten nicht überall durch und dem praktisch bewährten Manne wird nicht stets ein williges Ohr geliehen. Besonders warm nahm er sich der hinterlassenen Werke Mendelsohn’s an, doch auch hier mußte er erleben, daß hinter seinem Rücken Handschriften weggegeben wurden und in unrichtige Hände kamen. Als Componist beschränkte er sich nur noch auf seine Umgebung und schrieb Lieder und kleine Clavierstücke für den und jenen Liebling. Seine Ehe mit der feingebildeten Gattin war eine außerordentlich glückliche. Es entsprossen ihr 2 Söhne und drei Töchter; der älteste starb jung, der jüngere wurde Maler. Von den Töchtern verheiratete sich die älteste, eine vortreffliche Clavierspielerin, in London, die andere nach Jerusalem an einen Gesandtschaftsattaché. Eine Schaar von Enkeln entsproß diesen Ehen und das größte Glück empfand er, sie zeitweise alle um sich zu sehen. Noch im J. 1868 lebt er eine Zeit lang in London bei seinen Kindern, macht 1869 noch die weite Reise nach Belgrad, um seine zweite Tochter zu sehen, stets in rüstiger Gesundheit und geistiger Frische; componirt sogar noch zur 25jährigen Jubelfeier des Conservatoriums ein achthändiges Stück, doch schon im December 1869 fühlt er seine Kräfte abnehmen und sein Tagebuch zeigt die Notiz „Auflösung ist das Ziel unseres irdischen Lebens“ und darunter die musikalische Nutzanwendung, denn ohne seine liebe Musik kein Leben, kein Denken: ein Sätzchen, nur aus Septimenaccorden und deren Auflösung bestehend, mit der Bezeichnung „Tempo ad libitum“. Es ist das Aushauchen des menschlichen Lebens sinnbildlich musikalisch dargestellt. Noch einmal scheint es als wenn er sich erholen sollte, doch es war nur das Aufflackern seines regen Geistes und einst kerngesunden Körpers. Am 10. März 1870 entschlief er sanft, den Tod als guten Freund betrachtend, der alles in der Welt ausgleicht, selbst die Disharmonien, die ihm in den letzten Jahrzehnten seines Lebens so oft den Kunstgenuß gestört haben. Seinen Mozart, Clementi und Hummel konnte er nicht vergessen.