ADB:Swieten, Gerhard Freiherr van

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Artikel „Swieten, Gerhard van“ von Daniel Jacoby in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 265–271, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Swieten,_Gerhard_Freiherr_van&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 10:36 Uhr UTC)
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Band 37 (1894), S. 265–271 (Quelle).
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Swieten: Gerhard van S., berühmter Arzt, hochverdient um den geistigen Aufschwung in Oesterreich, wurde geboren am 7. Mai 1700 zu Leiden. Er stammte aus einem altholländischen Geschlecht; ein Adrian van S. gehörte dem Bund der Edelleute an, der sich 1566 gegen die Spanier bildete. Das Geschlecht zerfiel in zwei Linien, von denen die eine der protestantischen, die andere der katholischen Confession anhing. Gerhard entstammte der zweiten. Früh der Eltern beraubt, zeigte er Fleiß und Beharrlichkeit; schon im 16. Jahre bezog er die Hochschule Löwen, wo er sich mit philosophischen Wissenschaften beschäftigte, zwei Jahre darauf kehrte er nach Leiden zurück, wo er sich unter dem Anatomen Albinus († 1721), besonders aber unter Hermann Boerhaave (geboren 1668) ganz der Medicin widmete. Boerhaave, den sein Schüler Albrecht v. Haller communis Europae praeceptor nannte, wurde Swieten’s bewunderter Lehrer, der in ihm den Sinn für exakte Forschung weckte, ihn voraussetzungslose Beobachtung lehrte und ihn auf die Bedeutung der Geschichte der Medicin wies. Die Werke der griechischen Aerzte las S. wie sein Lehrer Boerhaave in der Ursprache. Die mit Liebe erwählte Wissenschaft nahm des Jünglings ganze Kraft in Anspruch, so daß sein Körper zu erliegen drohte. Im J. 1725 erhielt er die Doctorwürde, trat dann als Privatlehrer auf und wirkte als Stellvertreter Boerhaaves, als diesen 1727 eine gichtische Lähmung der Beine im Berufe störte. Haller, der damals in Leiden studirte, schrieb in sein (durch Ludwig Hirzel bekannt gewordenes) Tagebuch: „v. S., ein gescheiter Mensch, liest über die mat. med.“ Nach Boerhaave’s Tod 1738 blieb er, als Katholik vom Staatsamt ausgeschlossen, in Leiden. Ich habe 9 Jahre, sagt er 1749 in einem französisch geschriebenen Briefe an die Kaiserin Maria Theresia, in Leiden ohne einen Titel und ohne eine Besoldung medicinische Vorlesungen gehalten. In demselben Briefe erwähnt er, daß der Haß gegen die katholische Religion ihn zum Aufgeben der Vorlesungen veranlaßt habe; die Studenten aber, erzählt er weiter, wollten sich empören: er besänftigte sie durch das Versprechen, er werde die Lehren schriftlich abfassen, die er ihnen nicht laut vortragen könne. Bereits 1741 erschien der erste Band seiner Commentaria zu Boerhaave’s Arzneilehre. Bei dem Ruhm, den das Buch in Fachkreisen erlangte, wurde S. von dem Fürsten Kaunitz der Kaiserin Maria Theresia empfohlen. Trotz den Ränken, die gegen ihn als Arzt der geliebten Schwester der Kaiserin ins Werk gesetzt wurden, der Erzherzogin Marianne – sie starb im Wochenbett, seine sorgfältige Behandlung war vergeblich – trotz diesen Ränken berief ihn Maria Theresia nach Oesterreich.

Am 7. Juni 1745 traf er in Wien ein, das ihm zur Heimath werden sollte. Hier regte er den durch die Jesuiten niedergehaltenen Geist der Forschung auf allen Gebieten des Wissens an, besonders aber auf dem der Arzneiwissenschaft. Wiewol ein Gegner der Freidenker, wiewol durchaus gläubiger Katholik, trat er doch gegen Aberglauben und Dunkelmänner rücksichtslos auf, in seinen Reformplänen durch die Gunst der Kaiserin gefördert, deren Vertrauen, ja deren Freundschaft ihm bis zu seinem Tode verblieb, obgleich oder gerade weil S. zuweilen auch gegen Maria Theresia fest und überzeugungstreu auftreten konnte. Ueber sein Privatleben haben wir nur wenige Nachrichten. Er lebte in glücklicher Ehe mit Marie Lambertine Therese Ter Beek van Coesfeld, die ihm drei Söhne und zwei Töchter gebar. Von den beiden überlebenden Söhnen war Gottfried in des Vaters Todesjahr außerordentlicher Gesandter in Berlin. Gottfried war ein Verehrer Lessing’s; daß er auch Mozart’s Gönner und Förderer gewesen, hat Otto Jahn in Mozart’s Leben dargestellt. – Swieten’s Arbeitskraft war unvergleichlich. Streng im Dienste, war er nach dem Vorbild seines Lehrers hülfreich gegen die Armen und Kranken, denen er nicht bloß durch seine [266] ärztliche Kunst half. Freimüthig und offen, selbstbewußt auch gegen die Großen, haßte er Gleißner und Heuchler. Von der Neigung zu herrischer Härte ist er jedoch nicht frei zu sprechen. Riß ihn aber sein heftiges Naturell zuweilen zu einer Ungerechtigkeit hin, so war er nicht zu stolz, seine Uebereilung zu bekennen. Selbstlos förderte er das Wohl des Staates und der Wissenschaft. Als Leibarzt der Kaiserin und ihrer Familie genoß er unbedingtes Vertrauen, obwol auch seine Kunst gegen schreckliche Krankheiten nicht ausreichte. Als Josepha, Joseph’s Gattin, Ende Mai 1767 an den Blattern starb, lag Maria Theresia an derselben Krankheit darnieder, und Wien bangte um ihr Leben. Mitte Juni erst besserte sich ihr Zustand, so daß sie sich am 22. im Stephansdome öffentlich zeigen konnte. Die Kaiserin sah S. als Retter ihres Lebens an und belohnte ihn reichlich: schon 1758 war er in den Freiherrenstand erhoben worden. Oefter leidend, erkrankte er Ende März 1772 schwer an einer Geschwulst auf einer Fußzehe. Das Uebel verschlimmerte sich im Frühling, der Fuß wurde brandig. Alle Zehen des Fußes wurden ihm abgenommen: S. litt heldenmüthig die Schmerzen und sagte den nahen Tod voraus. Am 13. Juni besuchte ihn die Kaiserin, der Kranke dankte ihr mit Thränen für ihre Güte und immer gleiche Gunst. Am 18. Juni starb er auf seinem Landhause zu Schönbrunn; am Abend des 20. wurde die Leiche in Wien in der Augustinerkirche beigesetzt.

Swieten’s Verdienste um den Fortschritt der Wissenschaft in Oesterreich werden deutlich, wenn wir die Zustände vor seiner Wirksamkeit etwas beleuchten. Seit Rudolf II. hatten die Jesuiten auf allen Gebieten des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens allmählich die Herrschaft in die Hände bekommen. Durch die sog. Sanctio pragmatica 1623 wurde die philosophische und theologische Facultät dem Orden ausgeliefert: die medicinische und juristische verfielen immer mehr. Im Beginn des 18. Jahrhunderts wurde es zwar etwas besser; Karl VI. genehmigte 1735 die von der niederösterreichischen Regierung gemachten Vorschläge der Reform der Universität, aber die Lehrmethode und der Betrieb der Wissenschaften blieben doch im wesentlichen dieselben. Vergeblich hatte der große Leibniz, von Prinz Eugen unterstützt, durch Gründung einer Akademie das geistige Leben in Oesterreich zu heben gesucht. Auch Gottsched’s Bemühungen – er war 1749 mit seiner Frau in Wien – fanden keine ernstliche Beachtung. Ebensowenig hatte Josef v. Petrasch (s. A. D. B. XXV, 516) mit einem eingehenden und fleißigen Entwurf Glück, den er dem Reichsgrafen v. Haugwitz 1750 übersendete. Graf Khevenhüller schaffte sich mit oberflächlichen und unwürdigen Bedenken die unbequeme Angelegenheit vom Halse. An dem Widerstand der Jesuiten oder ihrer Zöglinge scheiterte alle und jede redliche Bemühung. Was Platen hundert Jahre später von den niedergetretenen Süditalienern sang, das paßt ganz auf den traurigen Zustand des österreichischen Volkes. Da griff S. drei Jahre nach seiner Ankunft in Wien thatkräftig ein. Dem Auftrag der Kaiserin gemäß arbeitete er einen Reformplan zunächst für die medicinischen Studien aus, den er 1749 der Kaiserin überreichte. Er verlangte u. a. für den öffentlichen Unterricht passende Räumlichkeiten, geeignete Lehrer mit ausreichendem Gehalte, Ernennung der Professoren durch die Kaiserin statt durch das Consistorium; er wies auf die Wichtigkeit der Botanik und Chemie hin, die bisher nicht gelehrt worden waren; die Prüfungen endlich sollten von lästigen Schranken befreit werden, andererseits rieth er größere Strenge und Ordnung an. Das am 7. Februar 1749 erschienene Patent über die Reform der medicinischen Facultät war im Sinne der Vorschläge Swieten’s. Dieser selbst wurde zum Director der Facultät ernannt. Zwar protestirte sie, aber vergeblich: die von S. angeführte Thatsache, daß von 600 in das Bürgerspital aufgenommenen Kindern 580 starben, war vernichtend. S. trat selbst als Lehrer auf und [267] sorgte für Berufung der rechten Männer an richtiger Stelle. Durch ihn wurde sein Studiengenosse bei Boerhaave Anton Haën (s. A. D. B. X, 311) 1754 aus dem Haag berufen als Professor der medicinischen Klinik; nach Swieten’s Tode wurde er Leibarzt der Kaiserin: hochverdient nennt ihn Haeser (Geschichte der Medicin II, 618) um den klinischen Unterricht an der Wiener Universität und um die Förderung der Diagnostik, hauptsächlich durch die Anwendung des Thermometers. Auch der Botaniker Jacquin (1727 geboren zu Leiden) wurde durch S. berufen; in Jacquin’s Hause und mit seiner Familie verkehrte bekanntlich Mozart viel. Neben Haën wirkte Anton Störk aus Schwaben (1731 geboren), der besonders die Arzneimittellehre verbesserte, ein Lieblingsschüler Swieten’s. Der geistvolle Maximilian Stoll aus Württemberg (1742 geboren) folgte zuerst ganz seinem Lehrer van Haën, bis er eigene Wege der Forschung wandelte. Auch der Anatom Lorenz Gasser; ebenso Ferdinand Leber; der um die Erkenntniß der Pest verdiente Chenot; Heinrich Crantz, der in der Geburtshülfe wesentliche Verbesserungen einführte, sie alle verdankten S. ihre Stellungen. Allmählich erlangte die Wiener Schule den Ruf Leidens. Von ihren späteren Schülern zeichneten sich besonders aus: Leopold Auenbrugger († 1809), der Erfinder der Percussion des Brustkorbs, der mit Haller im brieflichen Verkehr stand; der Physiolog Klinkosch, Professor in Prag, der die Entstehung der Knochen aus Bindegeweben untersuchte.

Der Reform der medicinischen Facultät folgte die der übrigen. Die Universität wurde 1752 Staatsanstalt. In diesem Jahr gelangten die Reformvorschläge für die theologische und philosophische Facultät zur Wirksamkeit; ein Jahr darauf auch für die juristische: 1755 wurde das neue Haus der Universität gebaut, und ein Jahr darauf erfolgte die Uebergabe. Gewiß, die Rechte der Universität wurden durch S. geschmälert, die Ernennung der Studiendirectoren bewies, daß die Regierung die Gewalt über die Universität haben wollte. Freiheit der Wissenschaft im heutigen Sinne gab es nicht. Aber nicht vom heutigen Standpunkte darf die Maßregel beurtheilt werden. Ohne sie hätten die Kirche und die Jesuiten die Wissenschaft dauernd geknebelt. Nur der Staat konnte der freien Forschung die Wege bahnen. Aber S. hatte nicht alles erreicht: die Ernennung zweier Jesuiten zu Directoren der theologischen und philosophischen Facultät war gegen seinen Willen erfolgt. Seine Anstrengungen erlahmten jedoch nicht. Durch die Studiencommission unterstützt, erreichte er die Absetzung beider Directoren. Die dem Orden nicht feindliche Kaiserin fügte sich seinen Vorschlägen aus Rücksicht auf die Staatsinteressen, aber energisch wollte sie dem Orden nicht zu Leibe gehen. So kam es, daß der Antrag der Studiencommission 1760, die Protestanten und Reformirten zur Promotion zuzulassen und in den Diplomen den Zusatz auctoritate pontificia neben dem caesarea zu streichen, von Maria Theresia abgelehnt wurde. Die Auflösung des Ordens durch Breve des Papstes Clemens XIV. vom 21. Juli 1773 hat S. nicht mehr erlebt.

Mit der Hebung der Wissenschaften an der Hochschule mußte, das sah S. ein, auch eine größere Freiheit im Gebrauch der wissenschaftlichen Hülfsmittel Hand in Hand gehen. Schon im Jahre seiner Uebersiedelung 1745 war er von Maria Theresia zum Vorsteher der Hofbibliothek ernannt worden. Durch ihn wurde Adam Franz Kollar (s. A. D. B. XVI, 472) als erster Scriptor angestellt, der um die Ordnung der Bibliothek sich sehr verdient gemacht hat. Bei seiner Ankunft in Wien fand S. die Jesuiten als Gewaltherren der Bücherpolizei. Der Haß gegen den Protestantismus hatte in Oesterreich zu einer Verschärfung der Bücheraufsicht geführt, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts bestanden hatte. Die von den Jesuiten beherrschte Universität hatte dann die [268] Censur übernommen. Später war eine Theilung zwischen ihr und der Regierung eingetreten, als zur Zeit Josef’s I. die Staatsgewalt sich die Prüfung politischer Bücher vorbehalten hatte. Eine Reform der Bücheraufsicht schien nothwendig, als zahlreiche Schriften der Gegner, die Maria Theresia als Nachfolgerin Karl’s VI. bekämpften, auch in die österreichischen Länder gelangten. Die Kaiserin wandte sich an S.: er sollte die Vorschläge des Directoriums, d. h. der Centralstelle für die politischen Geschäfte der Landesregierungen, begutachten. Ihm gelang nicht die völlige Ausschließung der Jesuiten von der Censur. Maria Theresia entschied 1751, daß zur Beurtheilung der Bücher allgemeinen Inhalts sowie der theologischen je ein Jesuit zu der Commission zugezogen werden solle; die der philosophischen und medicinischen wurde S. übertragen. Auf seinen Vorschlag wurde der übliche unwürdige Ueberfall der Drucker und Buchhändler abgeschafft, die nicht einmal immer die Kenntniß verbotener Bücher hatten: dafür sollte ein Verzeichniß der verbotenen Bücher – index librorum prohibitorum – den Buchhändlern und der Censurcommission in den Provinzen zugestellt werden. Aber S. ruhte nicht im Kampf gegen die Väter der Gesellschaft Jesu. Ein Ereigniß kam ihm zu Hülfe. Montesquieu’s Esprit des lois, 1748 erschienen, gelangte zwei Jahre darauf nach Wien. Die Jesuiten verschwärzten das Buch bei der Kaiserin; „noch im J. 1750“, so schreibt Sonnenfels, „konnte es Stand und Glück kosten, wenn man es sich anmerken ließ, in dem esprit des lois geblättert zu haben. Ich habe den Aufsatz in Händen gehabt, worin der Censor-Jesuit Stellen anführt, die er aus dem Zusammenhang gerissen, andre, die er verstümmelt, andre, die er ganz verfälscht hatte.“ Diese Verfälschung gab S. die Waffen gegen seine Gegner in die Hand. Auf eine Beschwerde Montesquieu’s entschieden 1752[WS 1] die Revisoren der historischen und politischen Litteratur die vollständige Freigebung des Buches: die beiden Jesuiten Biel und Pol wollten es nur den Gelehrten zugänglich machen. Die Mehrheit der Mitglieder, S. an der Spitze, stellte sich auf die Seite der Revisoren. Die klare Darlegung Swieten’s bewirkte, daß Maria Theresia das Buch freigab. Montesquieu wurde dadurch der Freund und Bewunderer des großen Arztes. Dieser erneuerte den Kampf, als Graf Schrattenbach, ein Anhänger der Jesuiten, Präsident der Censurcommission wurde: S. blieb Sieger und wurde 1759 zum Vorsitzenden ernannt, nachdem Schrattenbach seines Präsidiums enthoben war. Freilich war der Geschäftsgang schwerfällig genug. Auch war S. ein strenger Censor. Der Freund unbedingter Denk- und Gewissensfreiheit wird sich für sein Verhalten nicht begeistern, denn mit Platen wird er jedem Zwingherrn des Wortes zurufen: Du willst der Rede setzen ihre Schranke, Einkerkern Schrift und Wort? Umsonst! es wälzt sich jeder Gluthgedanke Baccchantisch und unsterblich fort. Der unbefangene Josef sprach sich schon 1765 gegen die allzu strenge Censur aus, die der „so erwünschten Erweiterung der Kenntniß und Wissenschaft hinderlich falle“. S. trat, obwol Gegner der Jesuiten, nicht als Rächer der Gedankenfreiheit auf. Aber man vergesse nicht, daß er vorsichtig sein mußte, wollte er das Vertrauen der streng kirchlichen Kaiserin sich erhalten. Verbot sie doch auch Sonnenfels noch im J. 1766, auf die Beschwerde des Cardinals Migazzi, in seiner Zeitschrift „Der Mann ohne Vorurtheil“ Gegenstände zu erörtern, „die in das geistliche und Staatsrecht einschlagen“. Gegner der Freidenker und gläubiger Katholik, meinte S. die nöthige Freiheit in der Untersuchung der Wahrheit nicht gewähren zu können. Kein Wunder darum, daß er Macchiavelli verdammte, daß ihm Rousseau ein mauvais sujet war, wie er Johann Nicolaus Meinhard, dem von Lessing warm gerühmten Uebersetzer italienischer Dichter, der sich über die Wegnahme seiner Bücher beklagte, in einer Audienz 1763 erklärte. Dieser von Nicolai über Meinhard erzählte Vorfall [269] wird von denen erwähnt, die über S. als Censor sich geäußert haben; ich muß aber bemerken, daß ein noch nicht beachteter Brief Meinhard’s selbst an Gellert vom 28. October 1763 das nicht erwähnt. Meinhard sollte im Auftrage Gellert’s einige Bücher einem österreichischen Grafen übergeben. Sie wurden einige Tage nur von der Censur vorenthalten. Meinhard schreibt: Ein Unfall von geringerer Wichtigkeit ist mir hier an meinen Büchern widerfahren, die vor der Censur ein strenges Examen ausgestanden haben. Meine erste Besorgniß war für unsere geistlichen Bücher und für die, die Sie uns für den Grafen .. mitgegeben. Aber der Präsident in diesem Büchergerichte, der berühmte Baron v. S. beruhigte mich mit diesen Worten: nous vous regardons comme frères et vous n’avez rien à craindre pour vos libres de dévotion; pour les ouvrages de M. Gellert, nous les admirons et les respectons. Das Urtheil über Gellert ist bezeichnend. Gellert galt, wie Erich Schmidt in seinem Buch über Lessing sagt, in Oesterreich noch für einen führenden Poeten, als die Generation Klopstock’s, Lessing’s, Wieland’s über das sächsische Regime zur Tagesordnung überging.

Von den französischen Schriftstellern war besonders Voltaire dem Censor S. verhaßt; dessen Pucelle, pièces nouvelles und poésies badines verurtheilte er. Voltaire rächte sich in Prosa und in Versen:

Tu peux bien empêcher les malades de vivre,
Tu peux les tuer tous, mais non pas un bon livre.

Ariosto’s „rime satire“ fanden ebenfalls keine Gnade. Und von deutschen Schriften hielt er u. a. Wieland’s Agathon für gefährlich, ebenso eine französische Uebersetzung seines Don Sylvio. Auch viele Jugendschriften Lessing’s verurtheilte der strenge Mann: libellus iam damnatus in aliis et plura alia turpia continens, heißt es in den angemerkten Stellen. Sie beziehen sich auf das ernste, Fragment gebliebene Gedicht Lessing’s „Die Religion“, auf das schelmische „Der Eremit“; auch stark scherzhafte Epigramme, wie auf den Turan, die Thestylis, die Nachahmung des 84. Sinngedichtes im 3. Buche des Martial gaben S. Aergerniß. Der Eremit war schuld, daß auch später ein Band der Schriften Lessing’s verboten wurde. Von deutschen Dichtern früherer Zeit wurden Frischlin’s Werke verworfen, die „Agrippina“ Lohenstein’s, der Simplicissimus; dagegen nahm S. Opitz und Hoffmannswaldau auch gegen die Kaiserin in Schutz. Was würde man sagen, schrieb er ihr französisch in sonderbarer Begründung, wenn wir sie in einer Zeit verdammten, wo diese classischen Bücher zur Reform der deutschen Sprache so viel beitragen?

Zeigt sich S. demnach als Censor nicht weitherzig und vorurtheilsfrei, so stand er doch seinen Mann, wo das Recht des Staates gegen die herrschende Kirche in Frage kam. Und der Kampf wurde ihm nicht leicht. Maria Theresia stellte sich nicht immer auf seine Seite. So wurde das 1763 erschienene Buch des Trierer Bischofs Hontheim, der unter dem Namen Justinus Febronius schrieb, auf Anstiften Migazzi’s verboten. Febronius, auf jansenistischen Grundsätzen fußend, griff den römischen Hof an und redete einer gründlichen Reform der Kirchenverfassung das Wort. Erst 1769 wurde das Buch, wenn auch unter Beschränkungen, freigegeben. Dagegen blieb S. im Kampf für die Freigebung von Marmontel’s Belisar im wesentlichen Sieger.

An der Bemühung des Grafen Pergen, der, ein Gegner der Jesuiten-Gymnasien, das gesammte Schulwesen verbessern wollte, für den Unterricht in deutscher Sprache und für weltliche Lehrer eintrat, nahm S. noch insofern Antheil, als er den Antrag, eine Oberschulbehörde einzusetzen, warm unterstützte: in einem Briefe vom 7. October 1771 lehnte der Greis jedoch den Vorsitz in der Commission zur Reform der Volksschule ab. Aus der Reform wurde nichts: die [270] Kaiserin billigte nicht die Ausschließung der Ordensgeistlichen. Nach der Aufhebung des Jesuitenordens fielen die Gymnasien an den Staat zurück, allein schon 1820 gelang es den Jesuiten wieder, als Gymnasiallehrer zu wirken, bis das Jahr 1848 auch hierin Hülfe brachte. Nach dem Tode Swieten’s wurden die Fesseln der Censur noch drückender. Zwar regte sich nach Aufhebung des Ordens ein freierer Geist, aber eine wesentliche Besserung der Verhältnisse erfolgte nicht. Die Furcht vor der Vergiftung des Geistes durch Bücher, äußert Nicolai 1781, war in Oesterreich allgemein. Nicolai’s Hoffnung, Josef’s Regierung werde eine ganze Nation nicht mehr wie unmündige Kinder betrachten, ging zwar in Erfüllung. Josef gewährte 1787 dadurch völlige Preßfreiheit, daß in Wien vor erhaltener Censur Schriften abgedruckt werden konnten. Aber der gebeugte, verzweifelnde Kaiser, der zu überstürzt und nicht stet genug die Reformen hatte durchführen wollen, widerrief durch das Decret vom 20. Januar 1790 dieses große Recht.

In der Wissenschaft suchte S. seinen Ruhm als Erklärer seines Lehrers, dessen Aussprüche er für Orakel hielt. Weniger Forscher als Mann der That auf allen Gebieten des Lebens, wies er bescheiden den Ruhm des Pfadfinders von sich. Die Erläuterung der Institutionen Boerhaave’s überließ er so dem „sublimius ingenium“ Haller’s. Ueber sein Hauptwerk „Commentaria in Hermanni Boerhaave aphorismos de cognoscendis et curandis morbis.“ Lugduni Bat. 1742–1772 V. 4° (und öfter, auch deutsch) urtheilt Hecker, im Anfang sei S. zu sehr von seinem Lehrer abhängig, von der Mitte an aber gestalteten sich die einzelnen Abschnitte des Werkes zu abgerundeten Monographieen. Dazu verhalfen S. seine Sammlungen, deren man nach seinem Tode 30 Foliobände fand. Wissenschaftliche Untersuchungen zu fördern war S. stets bereit. Ein wenig bekanntes Beispiel zeuge dafür, das ich J. G. Zimmermann, dem ersten Biographen Albrecht v. Haller’s, verdanke. Als Lessing’s Freund Christlob Mylius 1752 im Auftrag einer Gesellschaft von Gelehrten, zu deren Präsidenten Haller ernannt war, sich zu einer Forschungsreise nach Amerika anschickte, schlug S. Mylius vor, er solle unter sehr günstigen Bedingungen die Reise antreten. Schon war Mylius bereit, aber die Vorstellungen Haller’s veranlaßten ihn, das Anerbieten abzulehnen.

An dem Streit mit Haller, den Swieten’s Schwager führte, nahm er selbst keinen Antheil. Ueber den Streit hat Zimmermann Bericht gegeben: außer L. Hirzel hat ihn keiner in neuerer Zeit beachtet. Haller hatte in einem Auszug seiner Commentationen über Boerhaave bei aller Hochachtung vor seinem einstigen Lehrer einige Fehler hervorgehoben. Indem er S. kritiklose Bereitwilligkeit vorwarf, alle Anschauungen und Hypothesen Boerhaave’s zu vertreten, äußerte Haller: ein geistvoller Mann – es war Werlhof in Göttingen – habe daher gesagt: S. commentire als Katholik, Haller als Protestant. Nortwyk, der Schwager Swieten’s, griff darauf Haller scharf an. In der Erwiderung betonte Haller, sein Lehrer sei nicht unfehlbar gewesen: S. habe mehr den praktischen, er selbst den theoretischen Theil der Arzneikunst Boerhaave’s behandelt. Später im J. 1773 urtheilt Haller in einer Anzeige der Lobrede des Arztes Baldinger auf S. sehr zurückhaltend, aber nicht ganz unfreundlich: „Große Verdienste um die hohe Schule zu Wien und um das medicinische Wesen hat der Freiherr allerdings, in der Gemüthsverfassung aber war er von seinem Lehrer weit unterschieden.“ Daß S. als Censor auch Haller’s Gedichte und kleine Schriften in Oesterreich unmöglich zu machen versucht habe, wie Haller selbst nahe legt und Hirzel glaubt, ist durchaus nicht nachweislich.

An Haller’s kühnen und umfassenden Geist ragt S. allerdings nicht heran. Aber er war ein ehrlicher, thatkräftiger, ein ganzer Mann. Nicht immer frei [271] von Einseitigkeit und eigenwilliger Heftigkeit, ein echtes Kind der Aufklärungszeit im Guten wie im Schlimmen, führte er, muthig und zugleich vorsichtig auftretend, in äußerst schwierigen Verhältnissen und von heimlichen wie offenen Gegnern umringt, die in Oesterreich zu jeder Zeit dem freudigen Aufschwung der Geister sich entgegengesetzt haben, das Erreichbare und Mögliche mit echt holländischer Zähigkeit und Festigkeit durch. Vor nun gerade 20 Jahren (1873) hat Wilhelm Scherer in einem Vortrag „über das geistige Leben Oesterreichs im Mittelalter“ auf die Thatsache hingewiesen, wie selten in Oesterreich ein consequentes Fortarbeiten der Nachfolger das Werk eines tüchtigen Mannes krönte und sein Andenken ehrte: der alte Feind Oesterreichs, die Weichlichkeit und Genußsucht, der Mangel an Hartnäckigkeit und Hingebung untergrabe neidisch alles, was schon aufrecht zu stehen und hoch zu ragen scheine. So Scherer. Wenn die hervorragendsten Deutschen in Oesterreich mehr von der Zähigkeit und Mannhaftigkeit eines S. gehabt hätten, da manche ihn durch Geistestiefe und Herzenswärme doch weit überragten, gewiß, der hochbegabte deutsche Stamm würde heute in Oesterreich nicht um seine Existenz gegen Czechen und Slawen zu ringen nöthig haben.

Litteratur in Goedeke’s Grundriß IV, 2. Aufl., § 222, S. 183 v. Unterzeichneten. – Dazu Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland IV, 852–854. – Ad. Wiesner, Denkwürdigkeiten der österreich. Censur, 1847, S. 129 f., 183. – Albrecht Haller’s Tagebücher hg. v. Ludwig Hirzel, 1883, S. 110. – Hecker, Geschichte d. neueren Heilkunde, 1839, S. 353 f. Ausführliches Urtheil über Swieten’s Hauptwerk S. 372–392. – J. Kelle, Die Jesuiten-Gymnasien in Oesterreich, 1876, S. 235–236. – Haeser, Geschichte d. Medizin, 1881, II³, 617–619; vgl. 638. – Wilhelm Scherer, Vorträge und Aufsätze, 1874, S. 146. – Erich Schmidt, Lessing II, 306. 307. – Der Brief Meinhard’s an Gellert in Gellert’s sämmtl. Schriften, 1867, IX, 217.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: 1725